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Notiz 40: Una festa sui prati

Als ob er dabei gewesen, an diesem 28. Juli 2007, auf der Wiese vorm Adagio: Adriano Celentanos Hit Una festa sui prati ist so etwas wie eine Kurzbeschreibung dessen, was sich da abgespielt hat. Wir waren 33, und wenn ich die Menschen dazurechne, die mit glaubhaft tiefem Bedauern ihre geplante und zum Teil schon konkretisierte Teilnahme dann doch noch absagen mussten, wären wir 68 gewesen… Auch das also passend zu dem Motto, auf ein Bett-Tuch gesprayt und am Haus aufgehängt: 

 

VV `68 lebt!

Alla riscossa! (1)

 

Die Wiese vorm Haus zusätzlich dekoriert mit den Fotos von Che Guevara, aus einem italienischen Wandkalender für dieses Jahr, auf unterschiedlich lange Schilfstecken montiert. Und – weil vier Jahrzehnte an keinem und keiner ganz spurlos vorüber gehen – Stühle und Bänke und Tische, niemand muss auch heute das Sit-in auf dem Boden durchstehen…

Der Anfang des Ganzen: im Januar 2007 meine Schnapsidee (nun, eher wohl vom Rotwein erzeugt), nicht den nächsten runden Geburtstag zu feiern, sondern, als Alt-68er, eben diesen. Eine Einladung, in der Form einer Flugblatt-Parodie jener Jahre, bringt überraschend schnell und von erstaunlich vielen Empfängern begeisterte Zustimmung und auch schon erste Zusagen. Rotwein, das sehe ich einmal mehr, überzeugt eben einfach.

Beim Fest selbst wird allerdings mehr Weißwein getrunken, klar: im wunderschönen Hochsommer in Italien. Und weil ich in dieser AN Namen nennen will (weil ich nur Positives zu erzählen habe), sei auch der Wein benannt: VERDE CA’ RUPTAE, ein bemerkenswerter Verdicchio, was wiederum der vermutlich bekannteste der typischen Weine der Marken ist. Aus den Marken auch alle Italienerinnen und Italiener bei dem Fest. Halt, nein: Peter lebt zwar hier, der polyglotte Kosmopolit ist aber gebürtiger Ungar. Mit seiner Klugheit, Lebenserfahrung und hohem Witzniveau bereichert er auch diesen Abend, wie so viele andere, die wir mit ihm erlebt haben. Aus ähnlichen Motiven wie ich – Menschen zusammenzubringen, die um sich greifende, zerstörerische Isolation zu durchbrechen – hat Peter vor kurzem ein Kulturprojekt ganz hier in der Nähe gestartet.

Peter ist außerdem der beste Freund von Pico. Was etwas heißt, wenn man mitkriegt, wen Pico so alles kennt. Pico: unser Italienischlehrer (mit Strenge und Witz und auch mit Erfolg); hingebungsvoller Grundschullehrer, weil er als Bildhauer mit seinen Skulpturen zu wenig verdienen kann, um nicht nur sich selbst zu ernähren, sondern auch seine Mutter und seine Tante zu unterstützen, beide um die 80, in kleiner Wohnung zusammen lebend, für die er regelmäßig kocht und mit denen er fast jeden Sonntag zu Mittag isst. Ein Gang mit Pico durch Senigallias schönes Centro Storico, ein caffè mit ihm im DORIA, ein Drink in der Bar am Foro – immer wieder unterbrochen durch ein fröhliches “Ciao Pico!“, ein paar gewechselte Sätze, getauschte Informationen und Scherze. 

Piero und Noris allerdings, die vor kurzem ihre Agentur als Häusermakler zugemacht haben, kannte Pico nicht. Gut, die beiden kommen auch aus Pergola, das ist fast 50 km von Senigallia entfernt. Andererseits kennen und lieben und schmettern Piero und Noris die gleichen Lieder wie Pico. Beziehungsweise wie offenbar alle Italiener. So viel gesungen wie an diesem Abend wurde im Adagio und auf dessen Wiese davor schon lange nicht mehr, wenn überhaupt jemals. Schließlich war es das Haus von Bauern gewesen, und die sangen zwar sicher auch gern, hatten angesichts ihres harten Lebens aber wohl selten so viel Zeit dafür wie wir.

Apropos Zeit: das Ganze endete am Sonntagmorgen gegen sieben Uhr mit einem Frühstück des noch wachen harten Kerns – 3 P & I, Pico, Peter, Peggy plus Ingelis. Vermutlich auch für alle vier eine Premiere: wann frühstückt ein Mensch wohl sonst kalte Porchetta (zarten Schweinebraten), Tabuleh und kubanischen Rum (genau: Havana Club). Übrig geblieben vom Buffet am Abend.

Die Verpflegungsfrage übrigens nahm größeren Raum ein in der Planung und Vorbereitung des Festes: oh nein, nicht alle 68er waren damals reine Spontis, und inzwischen wissen auch die ein Minimum an hilfreicher Organisation zu schätzen. Im Adagio ist das die Domäne von Ingelis, und von ihr souverän gemeistert trotz eigenem Stress mit dem entstehenden neuen Film für den WDR. Das trotz gewisser ideologischer Bedenken ernsthaft erwogene „Catering“ verlor schließlich das Rennen. Zu groß die Zahl derer, die nicht nur kochend beitragen wollten, sondern auch konnten (ein kleiner Dämpfer, mit ungespielter Gelassenheit weggesteckt, für meine Einschätzung, unersetzbar zu sein, wenigstens am Herd…). Und so zauberten Peggy und Gela, aus Bonn hierher gekommen, zurückgreifend auf den reichen Fundus an Erfahrungen zwischen China und Bolivien, Albondingas (Fleischbällchen) und Tomaten-Zwiebel-Salat und Avocadocreme mit Erdbeeren. Wilfried, mit Freund Francisco aus Madrid angereist, erarbeitete (angesichts fehlender Werkzeuge wirklich eine Arbeit) eine Gazpacho, die allseits Lobeshymnen erntete, zu Recht. Daniela aus Frankfurt und ihre Tochter Alice, die italienischsten unter unseren deutschen Freunden, sprachsprudelnd, respektlos, witzsprühend schon die Tage zuvor, schoben unermüdlich und unaufgeregt plaudernd eine um die andere Tarte in den Ofen, mit diversen delikaten Belägen, machten quasi nebenbei das Tabuleh und reichlich Tiramisu. Der 16jährige Luca, Alices Bruder, montierte währenddessen lieber die Che-Guevara-Deko. Sophie und Brigitte brachten Sardinen mit und Kartoffelsalat, unsere Nachbarn Irena und Renè ein Caprese, obwohl beide erst am gleichen Tag angereist (er mit dem Motorrad, aus Heidelberg-Eppelheim, knappe 1000 km!), nach harten Wochen der Arbeit als Übersetzer.

Die stärkste Delegation des Abends stellte übrigens Berlin: 6 Teilnehmer. Vier davon, Gide & Jörg und Elke & Georg, waren über Rom angereist. Sie gaben auch die einzige ausgearbeitete Darbietung zum Besten, auf der Basis des Beatle-Songs Do you want to know a secret. Aber noch weit mehr: Gide, mit unerschöpflichem Reservoir an deutschen, spanischen, englischen Liedern und Songs, sorgte mit dafür, dass musikalisch die Internationale präsent war, auch wenn die selbst nicht angestimmt wurde; und somit ein gewisses Gegengewicht zu den italienischer Canzoni. Die rote Fahne übrigens flatterte kurzzeitig dennoch in den milden Hochsommerhimmel mit dem fast vollen Mond und immer neuen Sternschnuppen, musikalisch jedenfalls, als „Bandiera rossa“; in dieser den ganzen Abend durchziehenden Mischung aus Scherz, Satire, Ironie und tieferer Bedeutung unterstützt durch ein historisches, tiefrotes T-Shirt aus der verblichenen Sowjetunion (Aufdruck: CCCP) und einem Veteranenkäppi voller Orden und Ehrenzeichen, das Piero von seinem Schwager ausgeliehen und mir zur vorübergehenden Nutzung überlassen hatte. Avanti popolo, alla riscossa…!

Russische Töne ganz anderer Art dann, als Pico lautstark befand – so gegen elf Uhr am Abend muss das gewesen sein – , nun müsse ein Lied gesungen werden, allein für Emely, die 7jährige Tochter unserer Gäste im Blauen Appartement, heute angekommen, die unsere Einladung mitzufeiern angenommen hatten. Der Vorschlag kommt von jenem Pico, den so manche (und nicht bloß Deutsche) als Egozentriker und reinen Selbstdarsteller ablehnt, weil er jedes, auch noch so kleine Treffen in eine Pico-Show zwinge. Eine – wie ich inzwischen sicher bin – ebenso unzutreffende Verkürzung (was haben wir schon an ernsthaften Gesprächen und Debatten über alle möglichen Themen gehabt!) wie sie auch andererseits Pico unterläuft, wenn er einen ruhig dasitzenden, nicht andauernd lachexplodierenden Deutschen als verknöchert, humorlos und uninteressant einstuft…

Eben war es noch laut und lärmend und gelächterschwer gewesen auf der Wiese, aber als ich dann mit der Gitarre zu Emely hinübergehe, die auf dem Schoß ihrer Mutter dem Treiben mit großen Augen folgt, ist es auf einmal ganz still, und mit leise gezupfter Begleitung singe ich das Lied, das ich als Junge gelernt, immer geliebt und auch meinen Kindern so oft vorgesungen habe: Sieh, der Mann im Monde hütet seine Kuh… bajuschki baju…

Dann wieder italienische Töne. Noris, fröhlich wie selten und das nach kürzlichem schwerem Verkehrsunfall, stimmt La Lega an: Se ben che siamo donne, paura non abbiamo… Paola, unsere intelligente und elegante Freundin (das versprochene Mao-T-Shirt hat sie nicht mehr gefunden, oder es passt irgendwie doch nicht so richtig zu den flotten High Heels) stimmt händeklatschend ein. Liliana, ebenfalls über die 50 hinaus, was auch ihr keiner ansieht, löst sich von ihrem Freund Vittorio und trällert mit. Am „italienischen Tisch-Ende“ (Peter hatte schon bald die getrennten Tische zu einer langen Tafel zusammengeführt) auch Uschi aus Rosenheim mit Volker – der einzige, den ich noch aus jenen 68er-Zeiten kenne, aus München, wo wir studierten, oder Schnaitsee, wo wir mit anderen einen leer stehenden Bauernhof gemietet hatten. Und mitten drin vor allem Norbert, ebenfalls aus Berlin gekommen (über Venedig), mit seiner Frau Marlene. Die eher still und verhalten beobachtet und goutiert, während es Norbert, mit sonorem Bass und seinen Erfahrungen aus dem Chor der Deutschen Welle (wo ich ihn in den 90er Jahren als Redakteur und Abnehmer meiner Glossen kennen und schätzen lernte), immer wieder dorthin zieht, wo ein weiteres Lied angestimmt wird, das er selbstverständlich auch kennt.

Eher ruhig dagegen Sophie und Brigitte, unsere hier in den Marken gewonnenen, spannenden Freundinnen aus der Welt des Theaters (in vieler Hinsicht). Die Weite des Wiesenraumes gestattet auch Gespräche, Unterhaltungen, Diskussionen, abseits des Trubels den die „italienische squadra“ erzeugt. Ein bisschen dazwischen auch Ulla und Jochen aus Köln, die einen Umweg von hunderten von Kilometern auf der Reise in ihr eigenes Haus in Perinaldo an der Riviera nicht gescheut haben, um hier dabei zu sein. Oder Susanne und Uwe, aus München gekommen, und hier eine ganz andere Wies’n miterlebend als im Oktober in Stoibercity.

Una festa sui prati. Nuova festa. Gutes Essen. Buon Vino. Un sacco di risate: immer wieder branden die Wellen von Lachen auf. Dass – anders als Celentano singt – morgen nicht für alle der Wettkampf neu beginnt, die Schlacht ums Geld, in der wir alle Konkurrenten sind und uns hassen müssen – dass das nicht so ist, zumindest nicht für alle von uns, das liegt am Alter: viele sind schon in Pension… 

Andererseits: beim erneuten Lesen des Liedes durchzuckt mich eine kleine Irritation. Was Adriano Celentano so positiv beschreibt, zum Schluss: dass es – nach einem erneuten Fest sui prati – dann nur noch den gara dell’amore geben werde, den Wettkampf der Liebe, ein ganzes Leben lang, das stimmt mich nicht nur und rundum heiter. Auch auf diesem Feld, dem privaten, gibt es ja wahre Schlachten und so manches Blutbad, oft genug im Sinn des Wortes. Aber diesen Wermutstropfen habe ich – wie einen oder zwei weitere – in eine separate Flasche gefüllt und diese weit hinten in der Cantina abgestellt. Sie wegzuschmeißen hat keinen Sinn, ihr Inhalt lässt sich nicht vernichten oder elegant entsorgen. Aber ich muss diese Flasche ja nicht heute aufmachen, nicht hier und jetzt, wenn ich erzähle von dieser festa sui prati. Lieber denke ich an das Lied aus dem Jahr 1848 (!): Ihr hemmt uns, doch ihr zwingt uns nicht – unser die Welt, trotz alledem

Che bella giornata…!

9.8.2007

 

(1) VV = Das italienische „Es lebe…!“ – „Viva“, die beiden Vs oft ineinander verschlungen, so dass es wie ein „W“ aussieht. Und „alla riscossa“, aus dem Lied „Bandiera rossa“, heißt, laut Wörterbuch, „Rückeroberung“