ITA ING DEU

Notiz 45: Gubbio

Ich bin verrückt. 

Das haben mir zwar schon viele gesagt in meinem Leben; meine Mutter etwa, erst kopfschüttelnd nachsichtig amüsiert, später immer verzweifelter, weil wirklich davon überzeugt. Dann hörte ich es auch von Kollegen, Freunden, Frauen und weise gewordenen ehemaligen Mit-Hitzköpfen, dass sie ganz unterschiedliche Aktionen von mir, neue Vorhaben, alte Pläne oder auch bleibende Überzeugungen als einfach verrückt bewerteten.

Aber seit dem 12. April dieses Jahres 2008 habe ich das patente, ich bin sozusagen diplomiert als pazzo oder matto, als Verrückter. Für mich kam das ein bisschen überraschend, und es kam so:

 

Zur Eröffnung einer Ausstellung waren wir an diesem Samstagnachmittag nach Gubbio gefahren, etwa eine Stunde und zwanzig Minuten von unserem Haus entfernt, in den Bergen des umbrischen Apennin gelegen. Wir kannten das Städtchen nur von einem ganz kurzen Zwischenstopp auf der Reise nach Perugia vor ein paar Jahren. Und von ein paar sehr spöttischen Bemerkungen im Hinblick auf den Geisteszustand seiner Bewohner, vor allem von unseren Freunden Noris und Piero aus Pergola.

Die beiden hatten uns auch eingeladen zu dieser Vernissage mit Stoff- und Webe-Bildern von Patrizia, einer Schwester von Noris. Wir kamen so gegen halb sechs an, und schon der kurze Weg vom Parkplatz auf der Piazza 40 Martiri die steile, enge Straße hinauf zum Ort der Ausstellung in der Via Baldassini rief Begeisterung hervor. Dabei war das Wetter noch nicht einmal so, wie es bei einem Bummel durch ein italienisches Städtchen zu sein hätte, dunkle Regenwolken gaben immer mal wieder leichte Schauer ab und drohten mit mehr. Dennoch war die Schönheit zu sehen und die Atmosphäre zu spüren von diesen uralten Straßen, Mauern, Dächern, nicht nur der privaten, vor allem auch der offiziellen Gebäude, der Kirchen, der Paläste, in deren einem auch die Ausstellung aufgebaut war, zwei große Räume mit mächtigen Rundbogendecken und gewaltigen Mauern, an denen die Bilder hingen.

Zuerst standen wir mit den anderen, nach und nach eintröpfelnden Besuchern plaudernd herum – unsere Ankunft eine gute Dreiviertelstunde nach dem avisierten Beginn erwies sich einmal mehr als ängstlich-deutsche Überpünktlichkeit – und naschten von den angebotenen Häppchen und dem kräftigen Rotwein. Dann, nach der freundlichen-lockeren Eröffnungsansprache einer Freundin von Patrizia und einem weiteren Defilé vor den Werken öffnete sich ein Zeitfenster von eineinhalb Stunden bis zum gemeinsamen Abendessen im Ristorante Taverne del Lupo di Gubbio. Wir beschlossen, einen Spaziergang zu machen.

Der erste Eindruck verstärkte sich fast im Minutenabstand. Auf dem jahrhundertealten Pflaster stiegen wir steile Straßen und Treppen den Berg hoch, immer neue, ungewöhnliche, harmonische Ansichten taten sich auf, ein kleines Brückchen über die Gasse, alte, dekorative Holztüren, Durchblicke in gepflegte Innenhöfe mit mächtigen Büschen und Bäumen, dann der riesige Platz, der sich vor dem Palazzo dei Consoli öffnet und der den Blick frei gibt auf das Panorama von Häuserdächern, das Tal, auf die Reste des zweitgrößten, noch erhaltenen römischen Amphitheaters der Welt und schließlich auf die alles umrahmenden Berge des Apennin…

Aber es war nicht dieser kleine Rundgang durch Gubbio, der uns verrückt machte, obwohl wir nicht nur einmal befanden, das sei ja zum Wahnsinnigwerden schön hier, alles. Und es war auch nicht das anschließende Abendmahl, wenngleich wir auch dabei immer wieder ungläubig kopfschüttelnd Szenen miterlebten, die man sich so in Deutschland nicht vorstellen kann.

Siebzehn Gäste waren wir, platziert in einem Nebenraum des elegant eingerichteten Ristorante, an einem langen Tisch, auch hier wieder unter uralten Rundbogen, auf der edlen Tischdecke Porzellanteller, drei Gabeln links, ein Löffel oben, zwei Messer rechts, alles aus schwerem Silber, dazu farblich passende Stoffservietten. Und das Menu ein Gedicht: angefangen von den Antipasti über die fünf, sechs Primi – diverse Nudeln mit Fisch oder Fleisch, ein Pilzrisotto, ein Häppchen Linsen und alles in genau der richtigen Menge, um nicht viel zu früh satt zu sein – bis hin zu dem Secondo, Scheiben von butterzartem Filet in pikanter Sauce, dazu grüne Bohnen und Rosmarinkartoffeln, sowie schließlich, als krönender Abschluss, eine phantastische Creme Chantilly. Dazu ein leichter Weißwein, ein kräftiger Rotwein, Wasser. Und alles unauffällig-aufmerksam serviert.

Nicht an dem Essen teil nahm, auf einem Stuhl in der Ecke geduldig ausharrend, die Gitarre von Pieros Schwager Italo. Ihre Stunde schlug dann später, aber doch schon vor dem caffè und den digestivi. Italo musste nicht lange gebeten werden und begann sofort zu spielen.

Wir waren gespannt. Würde nicht, angesichts der angestimmten Lieder und überhaupt, alsbald ein Angestellter des Etablissements erscheinen? Und diskret aber bestimmt darauf hinweisen, dass man hier schließlich nicht in einer Kneipe oder unter sich sei (die anderen Räume des Ristorante hatten sich inzwischen auch längst gefüllt)? In der Tat – schon beim ersten Canzone, einem eher derben Spottlied auf Franzosen, von Italo begonnen, von fast allen Gästen fröhlich mitgesungen, kam der Ober – dunkler Anzug, rote Fliege -, der uns betreute. Kam herein, strahlte übers ganze Gesicht und – sang laut und mit einem wunderschönen Bariton mit. Kurz darauf tauchte ein weiterer Mann auf, relativ klein, etwa um die 60, im eleganten grauen Anzug, stand da, die Hände auf dem Rücken, den Unterkörper ab der Hüfte nach vorn geschoben – der Chef des Hauses. Er hörte nur zu, mild lächelnd, ein Fuß wippte im Takt, und nach dem Ende des Liedes klatschte er dezent, aber unübersehbar begeistert Beifall…

Keine Frage also, dass weiter gesungen wurde, Zurufe von Liedtiteln bestimmten das Programm, besonders in Stimmung war einmal mehr Piero, der mit seiner heiseren Stimme lauthals mitsang. Auch mir wurde zwei, drei Mal die Gitarre gereicht, für ein gewünschtes englisches oder auch mal ein deutsches Lied, und immer wieder der Ober dabei, einmal mit einer Rose in der Rechten, die er sich als Mikrophonsurrogat vor den Mund hielt, andere Gäste schauten ebenfalls herein, lächelnd, winkend – und das Ganze endete erst kurz vor Mitternacht.

Bei der Verabschiedung vor dem Ristorante dann kam irgendwann die Frage auf, ob wir, wir beiden Deutschen, denn schon „mattii di Gubbio“ seien. Nein?! Unmöglich, das müsse unbedingt passieren, und zwar sofort! In kleinen Grüppchen zogen wir dann zu dem Brunnen, Largo del Bargello. Und dort absolvierten wir die drei vorgeschriebenen Umrundungen, wurden taufgerecht mit Wasser bespritzt und laut und fröhlich beglückwünscht: damit hatten nun auch wir das „patente“, das Diplom der Bestätigung unseres Wahnsinns.

Am Tag darauf, am Sonntag, 13. April 2008, begann dann das Schauspiel, das uns einen weiteren Wahnsinn vor Augen führte, eine Verrücktheit der Art, wie sie dieses wunderschöne Land Italien auch immer mal wieder zu bieten hat: die Wahlen zum Parlament und Senat in Rom gewann diese unbegreifliche Figur, il cavaliere, Silvio Berlusconi. Nicht zum ersten Mal, wie bekannt, und diesmal sehr deutlich, vor allem im Norden, wo seine Partnerpartei „La Lega“ mächtig zulegte, dieses schwer zu fassende Konglomerat aus fremdenfeindlichen, rechtsgerichteten, separatistischen Elementen; und auch der tiefe Süden votierte mehrheitlich für den als Politclown gefährlich unterschätzten Milliardär und Medienzar, was nur heißen kann, dass er durchaus Verbindungen haben muss, nicht nur zur Loge P 2, sondern auch zu den diversen „ehrenwerten Familien“ auf Sizilien, in Neapel, in Kalabrien. Und dass nicht nur die Großindustrie auf Globalisierungskurs ist, sondern auch die Mafia, das wurde nur ein paar Tage später sichtbar in dem ersten Besucher, den dieser Berlusconi nach seinem Wahlsieg bei sich empfing – Wladimir Putin. Bei der Pressekonferenz der beiden Freunde dann die Szene, in der Il Cavaliere in der ihm eigenen „scherzhaften Art“ auf eine Journalistin, die Putin eine peinliche Frage stellte, mit deutlicher Geste ein Maschinengewehr richtete.

Wenn man es nicht schon wäre, man könnte glatt verrückt werden…

 

Im April 2008