ITA ING DEU

Notiz 46: Wie ich (wieder) einmal die deutsche Hauptstadt besuchte

Nein! Doch nicht Bonn! Das war auch so einer meiner größeren Irrtümer: dass ich damals dafür war, dieses von mir nie besonders geschätzte Bundesnest am Rhein zu behalten, als Hauptstadt für das so überraschend plötzlich zusammengeratene Deutschland. Wie alle meine größeren Irrtümer konnte ich diese Haltung auch überzeugend begründen, mit ein wenig Nostalgie und einer ganzen Menge an Ängsten vor dem, was das nunmehr kumulierte Deutsch-Getümel alsbald und garantiert veranstalten würde. Gegen die Großmachtambitionen der Jetzt-sind-wir-endlich-wieder-wir-Hauptstädter – so meine Befürchtung – würden sich die wenigen wirklichen Westberliner (überwiegend Schwaben) niemals korrigierend einbringen können…

Nun sitze ich im Mai 2008 auf dem „Alex“, dem Alexanderplatz, in einem Straßencafé mit Blick auf das Rote Rathaus, den Fernsehturm (Ex-DDR) und das einstmalige KDO, das CENTRUM hieß. Um das gleich vorwegzunehmen: es waren fünf schöne, angenehme, stressfreie Tage hier in dieser Stadt. Das lag außer an dem weitgehend passablen Wetter vor allem an den Freundinnen und Freunden, die ich hier traf. Auch sie, wie die Stadt insgesamt, strahlten eine ungespielte Gelassenheit aus, da war eine Normalität (nicht: Langeweile!), Alltäglichkeit (nicht: Belanglosigkeit), eine Heiterkeit (nicht: dieser früher oft so nervende, aggressive „Ballina Witz, wa!“). 

Klar: Gerhard Schröder, Joseph Fischer, Otto Schily und dergl. (die mich weit mehr aufregten als die schon schlimmen 3 K – Kohl, Kinkel, ja, sogar Kanter -, weil ich es bei diesen nicht anders erwartete), diese tele-genmutierten eitlen Ex-68er also sind ja dem Volk sei Dank davongewählt worden. Nein, nein: das ist keine Alters-Demenz in mir, die sich nach Christlich-Konservativem sehnt. Aber die gegenwärtige großkoalitionäre Regierungs-Besetzung wirkt doch irgendwie unauffällig und erträglich, vor allem im Vergleich mit dieser Bande von Zwergen, die sich selbst für Giganten halten, also Bush, Putin, Sarkozy und (schon wieder mal) Berlusconi. Außerdem ist die Frau Merkel derzeit in Südamerika unterwegs, ohne Push-up-BH, vermute ich, weil es um Politik geht und nicht um Kultur; der Außensteinmeier und der Innenschäuble haben beide die Gelegenheit nicht genutzt, den Dalai-Lama-Besuch zu einem großen PR (Peking-Reizen) zu machen. Und Kurt Beck versuchte nur ein weiteres Mal vergeblich, an große Vorgänger seiner inzwischen ziemlich kleinen Partei anzuknüpfen, indem er vor der Presse das Wort Scheiß in den Mund nahm wie einst im Bundestag Helmut Schmidt. Und schließlich: mehr und mehr wird spürbar, dass sich inzwischen etwas getan hat (und weiterhin tut) in der verkarsteten deutschen Politlandschaft – die Wahlerfolge der LINKEN  bringen selbst Leute auf neue Gedanken, von denen man bislang den Eindruck hatte, dass sie eigenes Denken für überflüssigen Luxus hielten, den sie lieber ihren Freunden aus der Wirtschaft überlassen wollten..

Keine Probleme für mich also, das Regierungsviertel zu bekucken, sowohl am Samstag vom Ausflugschiff „Havelland“ aus, zusammen mit den anderen über hundert Gästen der 70.Geburtstagsparty von Freund Peter, als auch am Sonntag, bei zwei Stunden Rundfahrt und -gang mit Schwägerin Gide und Jörg, meinen Gast- und Wohnungsgebern in Kreuzberg. Am Montagnachmittag dann, als 20000 Dalai-Lama-Fans am Brandenburger Tor sich stürmisch gaben, dümpelte ich mit Freund Georg auf dessen Segelboot die Havel kreuz und quer, bei (leider) deutlich weniger Wind. Dass ich je in meinem Leben in Berlin so viel auf dem Wasser unterwegs sein würde, das hätte ich nicht gedacht. Durchaus geplant dagegen: der Besuch in Restaurants mit nichtitalienischer Küche, zur Abwechslung; peruanisch, auf Vorschlag von Norbert und Marlene, oder in einer Tapas-Bar (mit Paella!) und in der Taverne von Jannis, dem Griechen. Und nicht zu vergessen: als Abrundung der lukullischen Extras ein klassisches Spargel-Essen „zu Hause“, sozusagen.

 

Wann war ich eigentlich zum letzten Mal in Berlin? Ich musste nachschauen: es war 2004, zu einem meiner letzten Auftritte als Liedermacher. Und mein erster Auftritt in Berlin war ganz hier in der Nähe vom Alex, beim Festival des politischen Liedes der DDR 1976.

Ich schließe die Augen.

Und rieche die zweitaktsatte Luft, höre das Trabi- und Wartburg-Geknatter. Und denke daran, wie man mir von Seiten der Organisatoren damals nahe legte, bei dem großen Abschlusskonzert im Friedrichstadt-Palast auf den Vortrag meines Hits „Du lässt disch gehen, ach SPD“ zu verzichten; weil man auf Weisung des Staatsrates gerade mal wieder „Brandt-Schutz-Wochen“ habe. Obwohl ich den Rat nicht befolgte, wurde der 1974 zurückgetretene Bundeskanzler in diesem Jahr 1976 Präsident der Sozialistischen Internationale.

Auch in Westberlin (West-Berlin? Berlin-West?) bin ich ein paar Mal aufgetreten. Andere Gründe, da hin zureisen, fand ich kaum. Zu verstörend war das Bild dieser Stadt, ein Patchwork aus vielen Teilchen: Schauergeschichten und wahre Informationen vom 17. Juni und 13. August, heldische Nachkriegsgedichte und Springer-Gesülze, Biermann-Lieder und Wolfgang-Neuss-Frechheiten, „Ich-bin-ein-Berliner“-Gedöns und Schah-Empfang, Benno-Ohnesorg, APO, Kommune 1 und – unvollständige und zufällige Auswahl an Namen, mit denen sich Geschichten verbanden – Enzensberger, Christa Wolf; Dutschke; Teufel; Langhans; Pfarrer Albertz; Ulbricht; Honecker; Didi Hallervorden; Berliner Ensemble; Gisela May; Reinhard Mey; Perry Friedman; Bürgermeister Schütz; Kudamm, Hasenheide; Kreuzberg…

Und das alles so weit weg von mir, auch ganz real: stundenlanges Warten an der Staatsgrenze, lächerliche Kontrollen, ewiges Gezuckel auf kaputten Straßen durch ein Land, das nicht nur durch die auf meiner Nase festgelötete West-Brille so grau und trostlos wirkte.

Ich öffne die Augen wieder. In fünf Minuten sind 50 Jahre vorbeigejagt. Berlin ist heute, seit ich vor vier Jahren nach Italien umgesiedelt bin, rein räumlich noch viel weiter weg von meinem Leben als früher,. Es ist andererseits viel näher. Nicht nur durch die Billig-Flieger oder neue Autobahnen. Handys tüteln hier (fast) so oft wie in Senigallia. Vorm Café schieben sich statt der Trabis und Wartburgs jetzt die ebenso unverwechselbaren Kleinwagen aller Hersteller und die als SUV getarnten Turnschuhe durch die Straßen. Und ich weiß ja, dass es in dieser Stadt wie überall die dunklen Seiten und schmutzigen Winkel gibt, dass auch die jetzige Regierung wie ihre Vorgängerin die Schere weiter geöffnet hat zwischen Arm und Reich. Mir fällt ein, was in diesem Februar beim 50. Jahrestagstreffen meines Abiturs einer aus unserer Klasse zu mir gesagt hat, nämlich  was für ein Glück wir hatten, wir, die kurz vor, während oder gleich nach dem 2. Weltkrieg Geborenen, inzwischen in Rente (noch nicht zusammengestrichen zugunsten der notleidenden Großkonzerne), weitgehend gesund, rüstig, aktiv, oft noch sportlich, fröhlich, mit weißem Haar und Schnäuzer; dass  wir ein ganz anderes, so günstiges Zeitfenster zum Leben erwischt haben als – vor allen – die Generation unserer Eltern, aber – vermutlich – auch die unserer Kinder und vor allem Enkel. –

Zwei Tage später dann die Rückreise ins Adagio. Mit guten Gefühlen durch das Andante con moto dieses Berlin-Aufenthaltes und die dadurch ausgelösten Erinnerungen an früheres Allegro con brio, Scherzo, Rondo, Variationi, Finale Furioso und auch manchmal ein Largo oder Grave. Ist das alles die Folge eines Altersleidens: des durch Milde und Nachsicht getrübten Blicks auf die Wirklichkeit?

Na, und wenn…!

  1. Juni 2008