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Notiz 56: Es gibt sie noch: Alternativen

Vielleicht drei Kilometer aus Chiaravalle hinausfahren, sagt er, dann ein Kreisverkehr, gleich die erste Ausfahrt nehmen, über eine Brücke, also ein Brückchen eher, direkt dahinter die kleine Straße nach links, eher ein Weg, zuerst noch geteert, dann unter der Brücke der Autostrada 14 durch; und dort, so sprudelt der freundliche Italiener weiter, würde er das Auto stehen lassen und zu Fuß weiter gehen, immer weiter, immer weiter, ziemlich weit sogar…

Wir wären wahrscheinlich trotzdem umgekehrt, dort, nach der Brücke, in der Dunkelheit im Nirgendwo, wären da nicht die anderen gewesen, einzeln, in Paaren, in kleinen Gruppen. Alle auf dem Weg zu dem Veranstaltungsort mit dem kryptischen Namen Casina di caccia („Jagdhaus“ – von dem ursprünglichen Verwendungszweck ist nur der Name geblieben…). Es ist schon dunkel natürlich, an diesem 3. September 2009, viertel vor neun Uhr abends. Nur die flackernden Fackeln alle zwanzig, dreißig Meter in Aluminiumtellern auf dem Boden weisen den Weg. Eine fast konspirativ wirkende Atmosphäre-

Und dann öffnet sich endlich, hinter einer weiteren Gruppe von Büschen und kleinen Bäumen, eine Lichtung. Stühle sind in  Reihen aufgestellt, 250 etwa, davor eine Bühne, rechts und links davon an zwei Metallsäulen die großen Boxen, Querstangen darüber mit den Scheinwerfern. Wir sind angekommen, tatsächlich, dort, wo das Konzert stattfinden soll von Gianmaria Testa. Die ersten sechs, acht Reihen sind schon besetzt, wir nehmen die nächsten freien Plätze, schnell wird es voll. Und es sind nicht genug Stühle da, viele müssen stehen oder sich auf den Boden setzen, zwischen den Reihen oder daneben. Schließlich werden es, so schätze ich, vierhundert, fünfhundert Besucher sein.

Ein Szenario wie aus einem Film. Links und rechts von uns als natürliche Begrenzung Baumgruppen und Büsche, hinter der einen schiebt sich der Vollmond in den klaren Himmel.

Kurz vor halb zehn kommen dann zwei Männer auf die Bühne, im Licht der Scheinwerfer umtanzt von Mücken, Faltern, Schmetterlingen. Zuerst der füllige Gianmaria Testa, rundes, lebensfrohes Gesicht mit mächtigem Schnauzbart. Liedermacher. Einer von den so vielen, die es hier in Italien gibt, viel viel mehr sind es als in Deutschland, und auch ungleich höher eingeschätzt, alle, auch wenn es natürlich wie überall die Unterschiede gibt im Bekanntheitsgrad, der Zahl der Fans, der verkauften Scheiben. Testa spielt sozusagen in der Regionalliga, auch von unseren Freunden kennen ihn nicht alle. Das gleiche gilt für den anderen Mann auf der Bühne, hager, schmal, grauhaarig: Erri De Luca. Schriftsteller und Übersetzer.

Die Begrüßung durch eine Frau, sie freut sich über die große Zahl der Besucher, dankt den beiden Künstlern und weist darauf hin, dass der Abend kostenlos für das Publikum ist, weil organisiert und gesponsert von einer Reihe von Alternativen der Provinz Ancona und verschiedenen kleinen Städten der Gegend hier, die ein Projekt zum Schutz und der Renaturierung eines kleinen Flusses da betreibt.

Erri De Luca beginnt. Geschickt greift er das Stichwort Wasser auf. Und ist schon nach wenigen, flüssig und mit warmer Stimme vorgetragenen Sätzen bei einem der Themen, die Italien derzeit umtreiben. Übers Wasser, sagt er, kommen sie zu uns, die vielen Flüchtlinge, die es in ihren Heimatländern nicht mehr aushalten, ohne Arbeit, ohne Einkommen, ohne Schulen, ohne Hoffnung. Vor ein paar Jahrzehnten, besonders aber im 19. Jahrhundert – so erinnert er – waren es wir Italiener, die aus den gleichen Gründen geflohen sind, oft auch übers Wasser, nach Amerika. Dankbar, dass wir dort aufgenommen wurden. Und wie verhalten wir uns heute? Gerade hat diese Regierung die Gesetze verschärft und die Strafen erhöht, die Polemiken nehmen täglich zu, gegen die „clandestini“, die „Illegalen“, die mit ihrer Ankunft automatisch, weil ohne Aufenthaltsberechtigung, Gesetzesbrecher sind; viele hier reden bereits es ganz offen und aggressiv von „Verbrechern“. Eine traurige Entwicklung, sagt De Luca, nein: eine Schande. Und er bekommt Beifall, oft und viel.

Wann haben wir zuletzt einen solchen Abend erlebt? Wo das Publikum solchen Sätzen und Gedanken Zwischenapplaus spendet. Wo ohne Bösartigkeit, ohne unfaire Attacken, ohne falsche Beschuldigungen dennoch Klartext geredet wird. Wo ein Mann spricht (und auch gelegentlich zur Gitarre greift und mitsingt), 59 Jahre alt, der die Dinge erlebt hat, von denen er erzählt, nicht nur angelesen, weil er so vieles war in seinem Leben, nicht nur Schriftsteller, führender Kopf der außerparlamentarischen Bewegung „Lotta continua“, aber auch Arbeiter, Lagerist, Maurer und Fahrer für Hilfsorganisationen in den Wirren der Balkankriege zum Beispiel.

Zwischen seinen Erzählungen immer wieder dann die Lieder von Gianmaria Testa. Auch er lange Zeit nicht als Künstler unterwegs, sondern – Bahnhofsvorsteher, in Cuneo, Piemont. Keine politischen Lieder wie wir sie kennen. Sondern kleine Beschreibungen, Liebeslieder, melancholische Gedichte, einfache, von Jazz und Folk geprägte Melodien und Gitarrenbegleitung. Aber durch seine Anmoderationen, seine Zwischenbemerkungen, seine ganze Haltung wird klar: da ist ein politischer Mensch, einer der auf jener Seite steht, die es eben auch immer noch gibt, hier in Italien. Nicht auf der anderen Seite, die uns jeden Tag so geballt ins Gesicht schwallt, aus den allermeisten Mainstream-Medien, kontrolliert vom Regierungschef (und auch aus den paar wenigen anderen: die das kritisieren, beklagen, darunter leiden, aber eben auch breit darüber berichten); diese zunehmend beängstigende Entwicklung dieses schönen Landes unter der – jaja doch: gewählten…- Regierung eines Mannes, der längst über das Stadium eines Clowns, eines Spott und Mitleid verdienenden Alt-Machos und peinlichen Sexsprücheklopfers hinaus ist, eine wirkliche Gefahr geworden ist für die Demokratie hier und eine zunehmende Belastung auch für Europa.

Das alles ist, dieser Abend hier macht es so wunderschön stimmungsvoll und heiter deutlich, in der Tat nur die eine Seite. Es gibt sie noch: die Alternativen. So wie bei uns in Deutschland damals in Zeiten der APO, später der Bewegungen (Frauen-, Umwelt-, Anti-Atom-, Friedens-). Wo etwa ein Schriftsteller wie Peter Maiwald seine Gedichte und Aphorismen las und die Gruppe Zupfgeigenhansel ihre Lieder sang, lustige, spöttische, melancholische, Liebes-Lieder. Manchmal – zusammen mit anderen – in vollen Fußballstadien oder auf den Rheinwiesen von Bonn und Düsseldorf. Oft aber auch vor einem Publikum irgendwo in der Provinz und etwa in dieser Zahl wie heute bei Chiaravalle, inmitten der mondüberglänzten warmen Pampa der Regien Marken.

Auch diese Seite also gibt es noch, hier in Italien. Wie es in Deutschland aussieht, weiß ich nicht: darüber wird nicht so viel berichtet. Bevor ich hierher gegangen bin, nach Italien, war es schon ruhiger geworden, die Stimmen leiser, die Veranstaltungen seltener, die Besucherzahlen kleiner. Ich kann also nur hoffen, dass es so etwas auch in Deutschland noch gibt; weil Widerspruch, Kritik, Protest und die Artikulierung anderer Ideen und Wege unverzichtbar sind, auch heute, gerade heute, überall auf der Welt.

Das macht diesen Abend des 3. September 2009 so wichtig. In diesen Zeiten, wo die andere Seite, die herrschende, arrogante, unsoziale, militärisch-militante und dennoch die Wahlen gewinnende, so übermächtig scheint, so ohne irgendeine Alternative.

Aber eben: nur scheint, zum Glück.

  1. Oktober 2009