ITA ING DEU

Notiz 62: Natürlich!

Natürlich ist es wieder ganz anders gelaufen als ich es geplant hatte! Die Idee zu dieser Notiz hier kam mir in der Nacht zum Sonntag, 19. Dezember, und schreiben wollte ich das gleich am Montagmorgen. Jetzt ist es Mittwochspätnachmittag… Andererseits ist das natürlich ein ganz guter Einstieg zu den Überlegungen, die mir neulich nächtens durch den Kopf gingen, ehe ich dann wieder sanft einschlummerte. Mit der unbeantworteten Frage nämlich, ob ich nicht viel zu oft und leichthin dieses „natürlich“ verwende.

Was ist denn natürlich, heutzutage, zu Beginn dieses 21. Jahrhunderts? Nun, z.B. dass ich dessen Ende natürlich nicht erleben werde. Weil einfach kein Mensch 161 Jahre alt wird. Das entspricht nicht dem Lauf der Natur, und nur was dem Lauf der Natur entspricht, ist natürlich. Obwohl – da stocke ich schon. So wie neulich nachts auch. Als ich mich nämlich fragte, was denn der Gegensatz zu natürlich sei, und schnell zu der Antwort kam: künstlich. Also etwas, das von uns Menschen gemacht ist. Etwas, das den Eintritt dessen verhindert, was dem Lauf der Natur entsprechen würde, was also natürlich wäre. Dazu gehört allerdings auch, dass die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen – zumindest in unseren so genannten entwickelten Ländern oder noch genauer: in der weiterhin so genannten Bundesrepublik – ständig steigt. Dass wir also heute laut Statistischem Bundesamt davon ausgehen dürfen (vorausgesetzt, wir würden auch heute geboren), 77,33 Jahre alt zu werden (als Mann) und als Frau sogar 82,53 Jahre. Dann ist es doch nur eine Frage der Zeit, wann die durchschnittliche Lebenserwartung eines deutschen Mannes 161 Jahre beträgt. Und wenn ich in diesen Zeiten leben würde, dann könnte ich natürlich das Ende dieses Jahrhunderts erleben. Ich lasse jetzt mal die Frage offen, ob ich das wollte. Aber es hat mich ja auch keiner gefragt, ob ich das alles erleben möchte, was ich so erlebe, und ob ich nicht lieber schon mit 55 gestorben wäre, also vor der Bundesregierung Schröder-Fischer und deren fortschrittlichen Maßnahmen wie der Beteiligung am Kosovokrieg und der Durchsetzung von Hartz IV; und vor allem vor der dritten Regierung Berlusconi.

Ich weiß natürlich, dass mir von aufmerksamen und klugen Menschen nun entgegengehalten werden wird, die Verwendung des Begriffs „natürlich“ sei ganz oft doch bloß ein Synonym für „selbstverständlich“ Aber damit bin ich noch lange nicht aus dem Schneider! (Übrigens auch so ein Begriff, über den nachzugrübeln sich lohnen würde; wenn das nicht bereits in dieser Sparte „Fragen unserer Leser“ der Wochenendbeilage der Süddeutschen Zeitung geschehen ist, einer Kolumne, die – für mich jedenfalls – viel lesenswerter ist als die Serie im freitäglichen Magazin dieser guten Zeitung, wo es um „Gewissensfragen“ geht, meist in der dramatischen Dimension, ob etwa das absichtliche mehrfache Nichtgrüßen der Schwiegermutter die Zeit im Fegefeuer verlängern könne) Was ich sagen will: selbstverständlich ist natürlich nicht dasselbe wie natürlich. Aber der Einwand ist selbstverständlich richtig.

Auch hier versuche ich jetzt mal weiterzukommen, indem ich nach dem Gegensatz zu selbstverständlich frage, und antworte mir fröhlich: nun, klar doch, etwas, das sich nicht von selbst versteht. 

Ja und?

Früher, noch vor weniger als 50 Jahren, wäre man in so einer Situation vermutlich verzweifelt oder in die Philosophie geraten. Heute nicht. Und warum nicht? Natürlich: weil es heute das Internet gibt und diese genialen Suchmaschinen. Und so gebe ich einfach die beiden Wörter bei Google ein. Und staune eine weiteres Mal grenzenlos. Ich erfahre: „selbstverständlich“ hat 17 Bedeutungen und 331 Synonyme! „ Natürlich“ bringt es sogar auf 55 Bedeutungen und 812 (achthundertundzwölf!) Synonyme!! Gigantisch! Damit habe ich nicht gerechnet. 

Ja und jetzt?

Jetzt werde ich plötzlich von einem Gefühl ganz atavistischer Radikalität erfasst. Dieses ganze Herumspinnen bringt doch nix! Letzte Woche am Mittwoch hat es wieder einmal auch hier in den Marken geschneit, so heftig wie die ganze Zeit schon in Deutschland. Das ist natürlich, im Dezember. Auch wenn kein Mensch mehr damit gerechnet hat. Nur weil es ein paar Jahre weniger oder gar nicht geschneit hat. Und die natürlichen Folgen dieses Schneefalls: vor dem Adagio eine Winterwunderlandschaft, die Hügel unter einer dicken weißen Decke, unter der auch die Oleander- und Rosmarinbüsche ein bisschen zu ächzen scheinen, die Katzen tappsen vorsichtig-neugierige Spuren in die unberührten Flächen… Ein Traum!

Was allerdings auch dazugehört: tagelang sind wir eingeschlossen. Unsere beiden alten Autos – widernatürlich mit Sommerreifen ausgerüstet – schaffen selbst die moderate Steigung nicht. Zum Glück hatten wir uns rechtzeitig vorher mit Lebensmitteln eingedeckt…

Leider, das wissen wir aus Erfahrung, wird die winterliche Schönheit schon sehr bald wieder weggetaut sein. Es wird also keine weiße Weihnacht geben in diesem tief christlichen Land. Anders als dort, wo der Obersthirte dieser Religion herkommt. Aber dieses (besitz-)ergreifende Fest ist ja ohnehin alles andere als natürlich, ich sage mal nur: Jungfrauengeburt. Und wenn schon: was auch immer damals passiert sein mag – geschneit hat es natürlich nicht, im Nahen Osten. Und von einem Konsumrausch zur Rettung einer Binnenkonjunktur ist in den einschlägigen Quellen auch nicht die Rede, allenfalls von irgendwelchen (Wirtschafts-?)Weisen aus dem Morgenland, weder von drei noch von heiligen noch von Königen.

Aber zurück zur Natur! Die hat trotz aller Menschenkunst noch immer so viel Macht, uns von Zeit zu Zeit mal unsere Grenzen zu zeigen, mit vereisten Weichen, 80-Kilometer-Staus, 1000 gestrichenen Flügen allein in Frankfurt Rhein-Main, Tsunamis oder herpeskranken Austern. Andererseits auch wieder im kommenden Jahr die Blütenpracht im Frühling, ein traumhafter Sommer so nah am Meer und im farbigen Herbst so viele Oliven auf den paar eigenen Bäumen, zum Einlegen oder für ein paar Liter von köstlich schmeckendem Öl.

Das alles ist natürlich. Und vielleicht, weil ich mich insgeheim darauf freue, denke und sage und schreibe ich so oft: natürlich…

Ekkes Frank – 30.12.2010