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Notiz 67: Wie im Film

Viele Filme, wahrscheinlich sogar die meisten, geben sich die größte Mühe, so zu sein wie das wahre Leben. Manchmal gibt sich auch das wahre Leben die größte Mühe, so zu sein wie ein Film; vor allem wie ein spannender Film. Das kann doch nicht wahr sein! sagen die Leute, wenn man eine solche Geschichte erzählt, das gibt es doch nicht!

Hier ist so eine Geschichte, vom 1. August 2011.

Es ist 12.14 Uhr. Stazione Senigallia, italienische Adriaküste. Heiß ist es, über 30 °. Normalerweise würden wir beide jetzt ans Meer fahren statt zum Bahnhof. Geht aber heute nicht. Ich habe ein Ticket für den Intercity, der um 12.26 Uhr hier abfährt. Ich will nach Bologna, Ankunft dort 14.35, Zeit reichlich, um dann mit dem Bus zum Aeroporto zu fahren und das Flugzeug nach Köln/Bonn zu kriegen, das um 16.40 Uhr abfliegen wird.

Ein Blick auf die Anzeigetafel im Bahnhof löst ungläubige Verwirrung aus. Vor meinem Zug wird die Ankunft eines anderen IC angekündigt, für 11.23. Und im Kästchen daneben: Verspätung 325 Minuten. Nicht 3,25, nicht 32,5. Nein: 325 Minuten. Gleich darauf eine Durchsage dazu, mit der Erklärung: bei Bari seien die Geleise von Demonstranten blockiert. Ein unguter Verdacht bestätigt sich: auch mein IC kommt von dort. Auch er wird also in den nächsten Stunden nicht hier sein. Wir beraten, durchaus noch gelassen.

Mit dem Auto fahren? Lieber nicht. Heute ist Ferienbeginn in Italien, die Autostrada 14 ist über weite Strecken Großbaustelle, sie wird sechsspurig ausgebaut. Und es gibt ja noch diesen anderen Zug, um fünf vor eins. Also zum Schalter, umgebucht, kein Problem, kostet auch nur 12,80 Euro statt 19. Und ich bin schon früher mal mit diesem Zug gefahren, wenn ich die Nerven für knappes Timing zu haben glaubte.

12.54. Der Bummelzug – Treno regionale klingt besser, finde ich – fährt pünktlich ein, Kunststück, er kommt aus Ancona, 30 km von hier. Und er ist deshalb auch fast leer.. Umarmung, Kuss und Daumendrücken, dass er ebenso pünktlich in Bologna ankommt. Um 15.20 nämlich. Dann bleibt mir genügend Zeit, der Check-in-Schalter am Aeroporto schließt um zehn nach vier.

Ein schöner Platz am Fenster, die Zeitung kann ich später noch lesen, jetzt lieber aufs Meer geschaut, direkt neben den Geleisen, bis Pesaro – also knapp 50 km – Strände, viele frei und leer, auf anderen bunte Sonnenschirmplantagen, Wohnwagenstädte, bleiche Touristen auf dem Sand und im Meer. Ferienfriedlich alles.

Allerdings: an jeder Station – und der Regionale hält sehr oft – steigen mehr Fahrgäste ein als sonst. Urlauber, klar. Meist junge Leute mit schweren Rucksäcken. Ich nehme la Repubblica und lese. Auch als der Zug ab Cattolica wieder den Meerblick bietet, wenn auch distanzierter, eher die Rückseite der mondänen Hotels und renovierungsbedürftiger Pensionen. Die Sitze mir gegenüber und neben mir besetzt inzwischen. Ruhige Menschen, zum Glück. Vielleicht auch nur müde. Alles Jungs unter 30, einer löst Sudoko und schwitzt, die anderen schwitzen und dösen, alle mit Ipad im Ohr. Ich lese und schwitze auch.

14.01. Durchsage, dass wir nun gleich in Rimini ankommen. Mit zehn Minuten Verspätung. Trenitalia entschuldigt sich für diese Unannehmlichkeit. Auf dem Bahnsteig Menschenmassen. Klar: da sind auch jene dabei, die mit den beiden ICs fahren wollten, welche jetzt vermutlich noch immer in der Gegend von Bari auf den Geleisen stehen, zusammen mit den Demonstranten. Als wir weiterfahren, stehen die Fahrgäste auch im Gang und auf den Flächen zwischen den Waggons. Die Temperatur steigt immer noch, keine Klimaanlage und nur wenige Fenster lassen sich öffnen.

Nächste Stationen: Cesena. Dann Forlì. Sie werden angesagt, unsere Verspätung nicht mehr. Ich bin schon nervös. Der Zug hält auf jedem Bahnhof viel zu lange, für meinen Geschmack. Dann auch noch ein Halt auf freier Strecke, schier endlos. Im Schritt-Tempo weiter. Einfahrt in der Stazione Castel Bolognese. Nie gehört. Stopp, im Fahrplan nicht vorgesehen. Eine Durchsage. Ich verstehe nicht richtig, frage den Jungen gegenüber. Ich habe richtig verstanden: der Zug wird hier eine Stunde halten. Mindestens. Betriebsbedingt.

Es ist inzwischen 15.12 Uhr. Nach einer hitzeverdösten Schreckminute packe ich mein Gepäck und steige aus, wie viele andere auch. Vor dem kleinen Bahnhof ein großer Platz ohne Schatten. An der Wand ein Schild TAXI, dazu eine Telefonnummer, die man bei Bedarf anrufen soll. Ich probiere es, besetzt, klar, um mich herum 20, 30 Leute mit dem Handy am Ohr. Ich rufe zu Hause an und erfahre gleich darauf: zum Aeroporto sind es 54 km. Ein Mann, zwischen 40 und 50, spricht mich an, ob ich auch Deutscher sei. Ja. Er will auch zum Flughafen. Welcher Flug? Auch nach Köln/Bonn… Er heißt übrigens H.

Es tut sich nichts auf dem Platz, zu hören nur Flüche in vielen Sprachen, auch schwyzerdütsch z.B. Ganz selten nur mal ein Auto. Ein Lieferwagen. Fährt vorbei. Ein Geländewagen. Dreht ab. Ein SUV, hält, parkt, der Fahrer trottet in die Bahnhofskneipe nebenan.

Tja. Das war’s dann wohl mit dem Flug. Wenn ich Glück habe, komme ich heute noch nach Bologna.

Und dann – und ich weiß wirklich nicht mehr, wie es dazu kam – steht ein paar Meter vor H. und mir einer von diesen gesichtslosen Kleinwagen, weiß, viertürig. Die Fahrerin, höchstens 25, kurze schwarze Haare, modische Brille, T-Shirt, Jeans, Italienerin natürlich, steigt aus. 

„Entschuldigung“, höre ich mich sagen, verlegen, so was mache ich sonst nicht, „wir müssen zum Aeroporto Bologna. Könnten Sie uns nicht bitte… vielleicht…?“

„Nein“, sagt sie, freundlich, es tut ihr leid, aber sie muss gleich zur Arbeit.

„Aber unser Flugzeug…“, stottere ich hinter ihr her.

Sie dreht sich wieder um, mustert uns beide. Dann sagt sie, nach Imola könne sie uns bringen. Da gebe es Busse nach Bologna und zum Flughafen. Wahrscheinlich auch Taxis.

Wunderbar, perfekt! rufe ich hektisch. Wir laden unser Gepäck in den Kofferraum, steigen ein. Auf den vierten Platz schiebt sich netter, pausenlos quasselnder junger Italiener. Die Fahrerin steht noch draußen, plaudert in aller Ruhe mit einem älteren Mann, den sie offenbar kennt. Ich steige aus. Dank meiner Nerven lauter als geplant: „Andiamo! Andiamo!! Prego! Pregooo!!!“ Es ist 20 nach 3.

Sie steigt ein, fährt los. Als wären wir auf der bekannten Rennstrecke hier in der Nähe. Ich kann mich nicht erinnern, jemals so rasant gefahren worden zu sein, egal ob von einer Frau oder einem Mann. Aber keine Angst. Nur immer wieder der Blick auf die Uhr. Hinter einem schleichenden LKW. Vor einer eingeschlafenen roten Ampel.

Dann Busbahnhof Imola, ein Pullmann. Der junge Italiener rennt hin, kommt zurück: in einer halben Stunde fährt der nach Bologna, Hauptbahnhof. Ihm passt das. Uns beide bringt die Frau zur nahen Stazione. Schon von weitem zu sehen: zwei Taxen. Was wir ihr schulden? Ach, was Sie denken… H. gibt ihr einen Zwanziger. Aber nein, sagt sie, das ist zu viel, und gibt ihm 5 zurück.

Aus dem kleinen Häuschen nebenan kommt der Fahrer des einen Taxis. So um die 30, fröhlich, wohin wir wollen? Wie lange er zum Aeroporto braucht? Naja, 35 Minuten, 40 vielleicht. Und es koste 60 € für uns zwei.

15.31. Wir steigen ein, hastig. Fahren Sie so schnell wie möglich, sage ich. Wie Alonso, sagt H. Der Fahrer hat verstanden. Prescht durch den Ort. Auf der Ausfallstraße ein Riesenlaster mit Anhänger, quält sich zum Rotlicht an der Ampel hin. Unser Fahrer nimmt die Linksabbiegerspur, bei grün startet er mit quietschenden Reifen. Kurz darauf die Autostrada. Zum Glück hat das Taxi natürlich Telepass. Noch mehr Glück: wenig Verkehr in Richtung Norden, auf der Gegenfahrbahn Schlangenverkehr, alle drei Spuren.

Und jetzt, wirklich wie im Film: bei jeder Entfernungsanzeige nach Bologna neue Berechnung der verbleibenden Zeit bis 16.10. Noch könnte es… Luft anhalten bei jedem Fahrzeug, das wir nicht überholen können.

Dann abbiegen auf die Tangenziale. Auch hier erstaunlich moderater Verkehr. Dennoch endlos die Strecke mit den zahllosen Ausfahrten bis es endlich, endlich heißt: AEROPORTO, nach rechts. Es ist zwei Minuten nach vier. Das Taxi brettert die Auffahrt hoch zu PARTENZE. Ich habe die 60 € parat. Wir halten vorm Eingang. „Nein!70!“ sagt er, „Autobahngebühr!“ H. drückt ihm einen weiteren Zehner in die Hand.

Die Abflughalle überfüllt. Urlaubsbeginn auch hier natürlich. Wo ist unser Schalter? Wir hetzen entlang. H. entdeckt ihn. Der einzige leere Schalter. Bis auf die junge Frau dahinter. Es ist 16.09.

„Gehören Sie zusammen?“ fragt sie, munter lächelnd.

„Nein, nein! Aber wir müssen beide…“ sage ich.

„Ja, ja, das ist schon klar!“ Und zu mir, weiterhin nett und freundlich: „Warten Sie doch bitte hinter der gelben Linie da!“

Der Check-in kein Problem. Die Sicherheitskontrolle kein Problem. Das einzige Problem, im Augenblick, für uns beide: eine Toilette.

Aber auch das, auf diesem modernen Aeroporto in Bologna, natürlich kein Problem.

13,08.2011