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Notiz 69: Innehalten

Es gibt Wörter in der deutschen Sprache, bei denen ich, wenn ich sie denke, höre oder lese, so ein bisschen fremdele. Das soll heißen: erst einmal irritiert bin, weil das Wort nicht zu meinem selbstverständlichen und üblichen Wortschatz zählt. Fremdeln z.B. gehört dazu. Oder Innehalten. Als ich dieser Tage, also kurz nach dem Wechsel der Jahre 2011 und 2012, mich nachmittags zur üblichen Siesta hingelegt hatte und so darüber nachdachte, was denn jetzt wohl wichtig sei, was ich in diesem neuen Jahr tun müsste oder zumindest sollte oder vielleicht auch nur könnte, angesichts all dieser pausenlos auf mich einstürmenden Fragen und Probleme und Meldungen und Informationen, im privaten Bereich, vor allem aber im sogenannten öffentlichen, da kam mir plötzlich das in den Sinn: Innehalten. Du könntest einfach mal innehalten.

Kaum hatte ich das gedacht, da war ich prompt irritiert. Nicht nur, dass ich dieses Wort nur sehr selten verwende, es scheint mir auch kein besonders moderner Begriff zu sein. Innehalten – das klingt doch eher verstaubt, altertümelnd, vielleicht sogar ein bisschen reaktionär. Nun lebe ich ja auch an einem Ort in der tiefsten Provinz Ancona, in den italienischen Marken, das ist vielleicht so ähnlich wie, will mal sagen: Westrhauderfehn in Ostfriesland oder Schnaitsee in Oberbayern. Also weit weit weg von den „Zentren“, wo der aktuelle Lauf der Welt bestimmt und gestaltet wird. 

Obwohl: so weit weg ist das nun auch wieder nicht. Wenn ich etwa meinen Platz da am Fenster verlasse, von dem ich über das Tal hinweg in die Hügel schauen kann, auf die Wiesen und die Felder, die gerade langsam vom wachsenden Wintergetreide ergrünen, was auch unsere Katzen geschäftig erkunden, da es ja auch ihr Gelände ist – wenn ich also da weggehe, die paar Meter hinüber zu dem uralten, ovalen Kirschholztisch in meinem Arbeitszimmer und den Laptop einschalte, dann bin ich mitten drin. Mitten im hektischen, pulsierenden, prallbunten Treiben der Bänker, der Börsianer, der Bosse, erlebe ihre Beziehungsdramen mit und ihre Versuche sie zu bewältigen, in Bungabungalows oder gleich in den besten Bordellen in ihrer Nähe; ich erlebe live die aggressive Gelassenheit eines scheinsouveränen Bundespräsidenten oder ich beobachte eine Bundeskanzlerin, die, wo immer sie geht und steht, überlegen alles aussitzt, sogar Probleme, die ihren Zieh-Opa Helmut zumindest zum Stirnrunzeln bewegt hätten. Ich komme kaum nach mit dem Hin- und Her-Zappen zwischen Obama und Occupy Wallstreet, Putin und Papademos, Spread und Sprite, Rating-Agenturen und Ratzingers entzückliche Abwertungen – ja, wo könnte ich denn dichter dran sein an den berühmten Plätzen mit den sprichwörtlichen Schalthebeln? Allerdings kann ich zwar hören und sehen und lesen, diskutieren, schreien, Emails verschicken, Internetumfragen beantworten, an Abstimmungen auf Tagesschau.de teilnehmen, sogar die FDP wählen – aber irgendwas wirklich entscheiden oder auch nur mitbestimmen kann ich sowieso nicht. Bin ich denn ein Ackermann oder ein Maschmeyer oder eine Frau Springer oder einer wie die Herren Porsche und Piech? Nein. Was ich kann, ist: mich aufregen, Wutanfälle kriegen, Drohungen ausstoßen, vielleicht sogar, wenn ich die Nummern habe, auf Mailboxen brüllen; höchstwahrscheinlich aber kann ich allenfalls Magengeschwüre kriegen von alledem.

Oder eben: ich könnte mal innehalten. Den Computer abschalten. Das Handy auch, und ein I-Pad gar nicht erst kaufen. Ich könnte dabei bleiben, dass ich weder ein Facebookfreundchen werden noch dass ich das Fernsehen haben will, hier im Haus. Mit den italienischen Programmen schon gar nicht (die laufen zur Abschreckung ja in Cafés, Bars und Ristorantes unentwegt und unüberhörbar); aber auch das, was ich so gelegentlich in der BRD sehe, ist für mich von A(RD) bis Z(dF) durchaus verzichtbar. Außer vielleicht mal ein Spielfilm, aber den kann ich mir auch auf DVD besorgen und reinziehen.

Innehalten: vielleicht klingt das deshalb so antiquiert, weil es darauf hinweist, dass man sich nicht mit dem ganzen Außen-Schrott befassen, sondern sich auf das Innen besinnen sollte. Auf eigene Gedanken kommen, eigene Ideen entwickeln, eigene Themen setzen, statt sich das angeblich so Wichtige, Bedeutende, Entscheidende aufzwingen zu lassen. Ob „die mächtigste Frau der Welt“ den unbedeutendsten Bundespräsidenten nach Heinrich Lübke weiter im Amt hält; ob die Schröder noch schrecklicher ist als es der Schröder schon war; ob dreimal A-plus oder dreimal schwarzer Kater dem Euro mehr hilft – na und??

Also zurück ans Fenster. Hinausschauen. Den Ausblick genießen. Jetzt schon, auch wenn die Bäume noch blattlos sind und die Wiesen morgens raureifweiß schimmern. Innehalten, auch im Blick nach vorn, in den warmen Frühling und den heißen Sommer. Hier kann ich das, mich ausruhen, eine Ruhepause einschieben, verschnaufen, mich entspannen, Atem schöpfen oder was es sonst noch für Synonyme dieses Wortes gibt. Kein Grund also zu Irritationen bei diesem Gedanken an ein „Innehalten“. Im Gegenteil: innehalten – zumindest immer mal wieder für einige Zeit – ist wahrscheinlich viel moderner und aktueller als alles clicken, scrollen, downloaden, forwarden, smsen, skypen, googeln, chatten und twittern zusammen…

18.01.2012