ITA ING DEU

Notiz 63: Gedanken zur (Aus-)Zeit

Immer öfter wird diese Frage gestellt, immer ungeduldiger, und nicht mehr nur im privaten Kreis von Freundinnen und Freunden oder Gästen, inzwischen auch zunehmend in den Medien, nicht nur in Italien, auch in den großen Blättern in Frankreich, England, Spanien, Deutschland, in der New York Times oder jetzt kürzlich in Davos, beim Welt-Treffen von Wirtschafts-Lenkern und Politikern, die Frage: was ist bloß los in Italien, wie lange erträgt dieses Volk noch diesen Regierungschef, diesen Silvio Berlusconi, diesen „Cavaliere“?

Ich habe darauf auch keine Antwort. Zu bizarr und undurchschaubar ist, was sich hier abspielt. In jedem anderen (west-)europäischen Land hätte, was von diesem Regierungschef so alles bekannt geworden ist, längst zu dessen Rücktritt geführt, führen müssen. In Rom hält eine ihm unerschütterlich hörige Parlamentsmehrheit diesen Berlusconi im Amt und eine bleibend schwache Opposition vermag nichts daran zu ändern. Gewiss: die erdrückende Medienmacht des Cavaliere erklärt vieles. Vielleicht auch, dass und warum immer noch so viele Italiener – und leider auch immer noch zu viele Italienerinnen1) – ihn bewundern und wahrscheinlich bei Neuwahlen auch wieder für ihn stimmen würden. Was tun also? Alle Überlegungen, Diskussionen mit unseren Freundinnen und Freunden hier, noch so intensives Nachdenken führen nicht zu aussichtsreichen Auswegen. Es ist zum Verzweifeln.

Oder: es ist Zeit für etwas anderes. Für eine Auszeit. Angeregt durch eine Passage in meinem Kundalini-Yoga-Buch kam ich ins Nachdenken über diesen berühmten Satz von Descartes, dieses cogito-ergo-sum, dieses Ich-denke-also-bin-ich. Was auch ich schon immer für unverzichtbar gehalten habe und was mein Leben mitbestimmt hat. Und nun habe ich gelesen, dass im Yoga der Satz ins Gegenteil verkehrt wird: Ich denke nicht, also bin ich; mit ausführlicher Erläuterung und Begründung. Verwirrend zunächst. Und dann doch auf einmal hilfreich. Weil: ich kann mich mit so mancher Frage ohne Antwort – und es ist ja nicht nur die eingangs zitierte – einfach zurückziehen. Ich kann in diesem schönen Haus am Ende einer kleinen Straße, die dennoch keine Sackgasse ist, mich nur mit dem beschäftigen, was hier und heute wichtig ist: verhindern, dass der unaufhörlich strömende Januar-Regen die Grundmauern unterspült; ich kann in der ein paar Tage später wie im Mai strahlenden und warmen Februar-Sonne die Hecken und Bäume beschneiden; das abendliche Licht auf den umliegenden Hügeln genießen; die ersten wiedergekehrten Vögel am Morgen lärmen hören; bei der Rückkehr von einem wunderbaren Restaurantessen mich amüsieren über das Stachelschweinepärchen, das unbeholfen über die Straße hoppelt; mir vorstellen, wie in ein paar Monaten wieder diese mediterrane Wärme zu einem Glas kühlen Weißweins unter der mächtigen Eiche einlädt…

Nein, das ist alles kein Augenverschließen vor der Realität. Es ist ja auch Realität, nur eine andere. Nicht nur für mich, nicht nur für uns beide – beim Lesen der Einträge in den Gästebüchern wird spürbar, dass sich diese Erfahrung vermittelt auch für andere, die aus den verschiedensten Gründen ebenfalls eine Auszeit suchen, einen Urlaub, eine Erholung brauchen. Und die dann, wenn sie das hier gefunden und genossen haben, wieder zurückkehren in ihre jeweilige Realität, der sie auf Dauer nicht entfliehen können und auch nicht wollen.

So wie auch ich wieder zurückkehre, immer wieder, und mich den Fragen stelle, mich stellen muss, die dazu gehören auch in diesem so schönen Land. Fragen, denen ich mich mit neuer Gelassenheit stellen kann, weil ich weiß, dass es sich um Zustände und Ereignisse und Personen handelt, die nicht die einzige, nicht die ganze Wirklichkeit sind in diesem Land. Ich bin nicht nur, weil ich denke. Ich bin auch, weil ich fühle. Weil ich Geduld habe und warten kann. Auf die Antwort, die vielleicht schon bald kommt, schneller womöglich als es derzeit den Anschein hat. 

Und weil immer auch diese andere Realität da ist. Die ich gedankenlos, bedenkenlos erleben kann. Und wofür ich mich nicht entschuldigen, nicht rechtfertigen muss, weil sie mir die Kraft gibt, auch Dinge zu ertragen wie z.B. diese nicht enden wollende Beleidigung von Verstand und Gefühl durch eine Figur wie diesen Cavaliere.

1) Ermutigend inzwischen die Demonstrationen (z.B. am 13. Februar) in so vielen Städten Italiens, ja der ganzen Welt, mit einer geschätzten Gesamtzahl von einer Million Teilnehmern, organisiert und gestaltet von Frauen, mit dem Ziel „Dimettiti“ („Tritt zurück!“) und „Basta!“

März 2011

Notiz 62: Natürlich!

Natürlich ist es wieder ganz anders gelaufen als ich es geplant hatte! Die Idee zu dieser Notiz hier kam mir in der Nacht zum Sonntag, 19. Dezember, und schreiben wollte ich das gleich am Montagmorgen. Jetzt ist es Mittwochspätnachmittag… Andererseits ist das natürlich ein ganz guter Einstieg zu den Überlegungen, die mir neulich nächtens durch den Kopf gingen, ehe ich dann wieder sanft einschlummerte. Mit der unbeantworteten Frage nämlich, ob ich nicht viel zu oft und leichthin dieses „natürlich“ verwende.

Was ist denn natürlich, heutzutage, zu Beginn dieses 21. Jahrhunderts? Nun, z.B. dass ich dessen Ende natürlich nicht erleben werde. Weil einfach kein Mensch 161 Jahre alt wird. Das entspricht nicht dem Lauf der Natur, und nur was dem Lauf der Natur entspricht, ist natürlich. Obwohl – da stocke ich schon. So wie neulich nachts auch. Als ich mich nämlich fragte, was denn der Gegensatz zu natürlich sei, und schnell zu der Antwort kam: künstlich. Also etwas, das von uns Menschen gemacht ist. Etwas, das den Eintritt dessen verhindert, was dem Lauf der Natur entsprechen würde, was also natürlich wäre. Dazu gehört allerdings auch, dass die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen – zumindest in unseren so genannten entwickelten Ländern oder noch genauer: in der weiterhin so genannten Bundesrepublik – ständig steigt. Dass wir also heute laut Statistischem Bundesamt davon ausgehen dürfen (vorausgesetzt, wir würden auch heute geboren), 77,33 Jahre alt zu werden (als Mann) und als Frau sogar 82,53 Jahre. Dann ist es doch nur eine Frage der Zeit, wann die durchschnittliche Lebenserwartung eines deutschen Mannes 161 Jahre beträgt. Und wenn ich in diesen Zeiten leben würde, dann könnte ich natürlich das Ende dieses Jahrhunderts erleben. Ich lasse jetzt mal die Frage offen, ob ich das wollte. Aber es hat mich ja auch keiner gefragt, ob ich das alles erleben möchte, was ich so erlebe, und ob ich nicht lieber schon mit 55 gestorben wäre, also vor der Bundesregierung Schröder-Fischer und deren fortschrittlichen Maßnahmen wie der Beteiligung am Kosovokrieg und der Durchsetzung von Hartz IV; und vor allem vor der dritten Regierung Berlusconi.

Ich weiß natürlich, dass mir von aufmerksamen und klugen Menschen nun entgegengehalten werden wird, die Verwendung des Begriffs „natürlich“ sei ganz oft doch bloß ein Synonym für „selbstverständlich“ Aber damit bin ich noch lange nicht aus dem Schneider! (Übrigens auch so ein Begriff, über den nachzugrübeln sich lohnen würde; wenn das nicht bereits in dieser Sparte „Fragen unserer Leser“ der Wochenendbeilage der Süddeutschen Zeitung geschehen ist, einer Kolumne, die – für mich jedenfalls – viel lesenswerter ist als die Serie im freitäglichen Magazin dieser guten Zeitung, wo es um „Gewissensfragen“ geht, meist in der dramatischen Dimension, ob etwa das absichtliche mehrfache Nichtgrüßen der Schwiegermutter die Zeit im Fegefeuer verlängern könne) Was ich sagen will: selbstverständlich ist natürlich nicht dasselbe wie natürlich. Aber der Einwand ist selbstverständlich richtig.

Auch hier versuche ich jetzt mal weiterzukommen, indem ich nach dem Gegensatz zu selbstverständlich frage, und antworte mir fröhlich: nun, klar doch, etwas, das sich nicht von selbst versteht. 

Ja und?

Früher, noch vor weniger als 50 Jahren, wäre man in so einer Situation vermutlich verzweifelt oder in die Philosophie geraten. Heute nicht. Und warum nicht? Natürlich: weil es heute das Internet gibt und diese genialen Suchmaschinen. Und so gebe ich einfach die beiden Wörter bei Google ein. Und staune eine weiteres Mal grenzenlos. Ich erfahre: „selbstverständlich“ hat 17 Bedeutungen und 331 Synonyme! „ Natürlich“ bringt es sogar auf 55 Bedeutungen und 812 (achthundertundzwölf!) Synonyme!! Gigantisch! Damit habe ich nicht gerechnet. 

Ja und jetzt?

Jetzt werde ich plötzlich von einem Gefühl ganz atavistischer Radikalität erfasst. Dieses ganze Herumspinnen bringt doch nix! Letzte Woche am Mittwoch hat es wieder einmal auch hier in den Marken geschneit, so heftig wie die ganze Zeit schon in Deutschland. Das ist natürlich, im Dezember. Auch wenn kein Mensch mehr damit gerechnet hat. Nur weil es ein paar Jahre weniger oder gar nicht geschneit hat. Und die natürlichen Folgen dieses Schneefalls: vor dem Adagio eine Winterwunderlandschaft, die Hügel unter einer dicken weißen Decke, unter der auch die Oleander- und Rosmarinbüsche ein bisschen zu ächzen scheinen, die Katzen tappsen vorsichtig-neugierige Spuren in die unberührten Flächen… Ein Traum!

Was allerdings auch dazugehört: tagelang sind wir eingeschlossen. Unsere beiden alten Autos – widernatürlich mit Sommerreifen ausgerüstet – schaffen selbst die moderate Steigung nicht. Zum Glück hatten wir uns rechtzeitig vorher mit Lebensmitteln eingedeckt…

Leider, das wissen wir aus Erfahrung, wird die winterliche Schönheit schon sehr bald wieder weggetaut sein. Es wird also keine weiße Weihnacht geben in diesem tief christlichen Land. Anders als dort, wo der Obersthirte dieser Religion herkommt. Aber dieses (besitz-)ergreifende Fest ist ja ohnehin alles andere als natürlich, ich sage mal nur: Jungfrauengeburt. Und wenn schon: was auch immer damals passiert sein mag – geschneit hat es natürlich nicht, im Nahen Osten. Und von einem Konsumrausch zur Rettung einer Binnenkonjunktur ist in den einschlägigen Quellen auch nicht die Rede, allenfalls von irgendwelchen (Wirtschafts-?)Weisen aus dem Morgenland, weder von drei noch von heiligen noch von Königen.

Aber zurück zur Natur! Die hat trotz aller Menschenkunst noch immer so viel Macht, uns von Zeit zu Zeit mal unsere Grenzen zu zeigen, mit vereisten Weichen, 80-Kilometer-Staus, 1000 gestrichenen Flügen allein in Frankfurt Rhein-Main, Tsunamis oder herpeskranken Austern. Andererseits auch wieder im kommenden Jahr die Blütenpracht im Frühling, ein traumhafter Sommer so nah am Meer und im farbigen Herbst so viele Oliven auf den paar eigenen Bäumen, zum Einlegen oder für ein paar Liter von köstlich schmeckendem Öl.

Das alles ist natürlich. Und vielleicht, weil ich mich insgeheim darauf freue, denke und sage und schreibe ich so oft: natürlich…

Ekkes Frank – 30.12.2010

Notiz 61: Fragen gibt es…

Seit Jahren, sogar seit Jahrzehnten habe ich mir diese Frage nicht mehr gestellt, die mir heute, an diesem August-Sonntag-Abend, kurz nach neun Uhr, ins Hirn schoss: Darf man beim Essen lesen?

Nein! Ganz klar und eindeutig die Antwort meiner Mutter seinerzeit. Natürlich nicht! Beim Essen konzentriert man sich auf das, was man verzehrt. Man würdigt etwa den Kopfsalat. Der noch eine Stunde vorher im Garten draußen stand, also frisch ist wie es frischer nicht geht, mit den ganzen Vitaminen noch drin! Ein Geschenk des Himmels! Und man genießt andächtig das Schweineschnitzel. Nein, Unsinn, natürlich nicht auch frisch aus dem Garten! Aber doch ebenfalls ein Geschenk, nach diesen schrecklichen Zeiten des 2. Weltkrieges, wo die Menschen, auch die deutschen Menschen, irgendwann gar nichts mehr zu essen hatten.
Wie ging es uns dann doch gut, in diesen Jahren des Wiederaufbaus! Dankbar mussten wir sein! Und würdigen mussten wir, was uns da geschenkt wurde (von wem auch immer), Kopfsalat voller Vitamine, Fleisch, schon bald jeden Tag, nicht mehr nur als große Ausnahme am Sonntag! Da hätte man sich doch versündigt, wenn man da beim Essen gelesen hätte!

Uns Nachkriegsgenerationsexemplaren war dies, leider, nicht begreifbar zu machen. Für uns war dieses Leben im neuen Deutschland (was mit dem NEUEN DEUTSCHLAND natürlich überhaupt gar nichts gemeinsam hatte!) ganz normal; so normal, wie der Alltag im Nationalsozialismus für meine Eltern gewesen war; und wie heute die Welt des globalisierten Turbokapitalismus für meine Kinder ist.

Und so war es für mich sehr früh ganz klar, dass ich beim Essen las. Wenn ich alleine aß, natürlich. Unvorstellbar, dass ich etwa beim Kerzenlichtdinner zu zweit neue Enthüllungen über Franz Josef Strauß im SPIEGEL gelesen hätte! Aber ich habe im Lauf meines nun doch schon ganz schön langen Lebens so oft allein gegessen, dass ich mir die Zeitverschwendung nicht verziehen hätte, die der Verzicht auf die mögliche gleichzeitige Wissensvermehrung durch eine Lektüre bedeutete. Außerdem: wie oft geschieht es denn, dass wir die uns vorgesetzten Köstlichkeiten einer vorzüglichen Mahlzeit nicht würdigen, indem wir uns mit einem Kreis von Freunden oder auch nur, aber mindestens ebenso intensiv, mit einer unvergleichlichen Begleiterin beschäftigen?! Ich möchte wirklich nicht wissen, wie viele Tausende von Vitaminen ich an der Ausübung ihrer segensreichen Aktivitäten gehindert habe, weil ich mich bewusst und gewollt abgelenkt habe durch intensive Gespräche. 

Oder eben durch Lesen! Wobei es übrigens ziemlich gleichgültig ist, was man liest. Bei mir ist es zumeist eine Zeitung. Oder ein Magazin. Eine Zeitschrift. Für ein Buch hätte ich kaum die richtige und wichtige Konzentration und Ruhe, ich wäre zwischen zwei Genüssen hin- und hergerissen: ein leckeres Saltimbocca mit Risotto Milanese und gleichzeitig die Blechtrommel zu genießen, das fiele mir sehr schwer. Bei Zeitungen und dergl. hält sich ja der Lesegenuss in Grenzen, angesichts der ganzen täglich neuen (oder auch immer gleichen) Katastrophen in Politik, Wirtschaft und der von uns Menschen so geschundenen Natur.

Da schießt mir also jetzt, nach so langer Zeit, diese Frage ins Hirn: ob es womöglich doch Gründe geben könnte dafür, beim Essen nicht zu lesen. Ich sitze hier, alleine, am Sonntagabend, in meinem Stammrestaurant I TIGLI in Corinaldo. Gut: bei dem ziemlich schummrigen Licht hier auf der Terrasse ist das Lesen für einen Grauer-Star-Verdächtigen wie mich ohnehin problematisch. Interessanter aber: ich lege die mitgebrachten „Blätter für deutsche und internationale Politik“ ganz zwanglos beiseite und konzentriere mich auf den gemischten Salat und den Teller mit Fritto Misto senza Spine. Und auf das Viertel Weißwein, offen, schön kühl. Und habe irgendwie auf einmal das Gefühl, dass ich genieße. Das Essen. Ohne zu lesen.

Meine Mutter fände das gut. Auch wenn es völlig andere Gründe sind, warum ich mich so verhalte.

Fragen gibt es… Ich weiß, ich weiß: es gibt wichtigere Fragen, und ich werde mir solche alsbald auch wieder stellen. Selbst wenn ich leider keine so schönen Antworten darauf weiß wie hier…

23.08.2010

Notiz 60: Sommergewitter

Es wurde wirklich langsam Zeit. Seit Wochen, ja Monaten diese Hitze. Wo sind wir denn! Irgendwann muss es doch – und dann war es so weit, gestern, am Donnerstag, fing es an. Schwere dunkle Wolken schoben sich über die Hügel, es grummelte von fern, dann zuckten die Blitze über den Himmel, krachender Donner folgte. Das Gewitter, das überfällige, war da. Sattes Rauschen erfüllte die Luft, der Regen prasselte auf die ausgedörrte Erde, die Pflanzen schienen ihn einzusaugen, das braune Gras fing fast sofort an neu zu grünen. Gereinigt nicht nur die verstaubten Autos, sondern vor allem die Luft, ein Aufatmen, ein Durchatmen wie schon lange nicht mehr. Kurz: es ereignet sich, endlich, was dieses Land so lange gebraucht hat.

Und wie von selbst stellt sich die Assoziation ein, die Erinnerung an diesen wunderbaren Film „Willkommen, Mr. Chance“ aus dem Jahr 1979, mit dem genialen Peter Sellers in der Rolle des alten Gärtners, dessen versonnene Bemerkungen aus seinem Berufsleben durch eine zufällige Bekanntschaft mit höchsten Repräsentanten der Gesellschaft als tiefsinnige wirtschaftliche und politische Aussagen gedeutet werden. Das eingangs Geschriebene könnten Chancy Gärtners Anmerkungen gewesen sein: an diesem gleichen Tag, als sich über den Marken dieses Gewitter austobte, blitzte, krachte und donnerte es nämlich auch in Rom, in der Politik.

Es wurde wirklich langsam Zeit! Seit Wochen, ja Monaten diese quälende Atmosphäre. Wo sind wir denn, wie oft haben wir uns das gefragt, angesichts der immer neuen schauerlichen Meldungen in der Tageszeitung Repubblica. Irgendwann muss es doch – und nun war es so weit, gestern, am Donnerstag, fing es an. Der einst so strahlende Himmel über den beiden Gründerfiguren der neuen politischen Formation „Popolo della Libertà“ (PDL), Silvio Berlusconi und Gianfranco Fini, hatte sich endgültig völlig verfinstert. Das schon seit längerem vernehmbare Grummeln war in einem Donnerschlag geendet, der „Cavaliere“ (Berlusconi) hatte seinen Widersacher rausschmeißen lassen aus dem PDL, keine Partei im herkömmlichen Sinn, ein Zweckbündnis mit eigentlich nur einem Ziel, nämlich den Milliardär vor drohender Verfolgung durch die Justiz zu schützen, indem es ihn zum Regierungschef zu machen half. Der Geschasste – vom politischen Werdegang ein Neofaschist, der sich inzwischen überaus straatstragend und moderat gibt – schleuderte Blitze zurück. Krachender Donner in den Medien folgte. Ein Raunen und Rauschen erfüllte die Szene, die Nachrichten prasselten aus Zeitungen und Radios und Fernsehen, die Menschen schienen sie einzusaugen, von „L’ora della libertà“ („Die Stunde der Freiheit“) schrieb der Chef der Repubblica aufatmend, durchatmend – kurz, es ereignete sich, was dieses Land so lange gebraucht hat.

Am Tag darauf, freitags, sitze ich in meinem Stammcafé in Senigallia und verschlinge die Berichte in der Repubblica, dieser – fast – einzigen italienischen Zeitung, die noch nicht von Berlussolini (wie ich ihn nur noch nennen möchte) kontrolliert wird. Wieder prasselt heftiger Regen auf die Plane der Sonnenmarkise, unter der ich sitze, und auf den hübschen kleinen Platz davor. Die Menschen scheinen das zu genießen, alle. Lachend, schnatternd und durchnässt eilen sie vorbei oder kommen sie hereingerannt, bestellen Espresso oder Cappucino und warten, dass der Regen aufhört. Besonders aber freuen sich natürlich die „Clandestini“, die Männer aus Afrika oder Asien, die laut rufend ihre heute einzige Ware anpreisen: Schirme, Stockschirme und Knirpse, in allen möglichen und unmöglichen Farben und Designs. „Ombrellombrellombrellombrello…“ schreit einer, ein anderer tanzt vor den Stühlen und Tischen entlang und kiekst „I’m singing in the rain“. 20 Euro ist der Anfangspreis, nach kurzem Handeln kriegt man so ein Ding aber dann für 5. Auch ich kaufe mir einen, den eigenen habe ich heute früh vergessen, da hat es gerade nicht geregnet, als ich losfuhr. Und ich entdecke als Herstellerangabe: Volksrepublik China. Was denn auch sonst. 

Dem Mann im politischen Regen in Rom wird ein simpler Schirm nicht nützen. Auch heute, Samstag, zwei Tage später, während sich bereits wieder der strahlend blaue Himmel des vom Atlantik herübergezogenen Hochs über das Land wölbt, geht es über den „Cavaliere“ und seine Spießgesellen knüppeldick herunter. Andererseits: der Mann hat schon so viel gedreht, getrickst und durchgestanden, nicht auszuschließen, dass er auch diesmal irgendeinen Weg findet, sich aus der Klemme zu befreien. Sein Leibarzt übrigens hat schon vor sechs Jahren erklärt, Berlusconi nehme ständig Provitamine, Enzyme, Mineralstoffe wie Magnesium und Selen, Antioxidantien, immunstärkende Mittel und ein spezielles Joghurt zu sich, er sei deshalb „fast unsterblich“. Gut so! Dann kann er hoffentlich auch die vielen, vielen Jahre Knast absitzen, die er sich in seinem Leben bisher verdient hat. Und die er aufgebrummt bekommen wird (zumindest: könnte), wenn der Schutz vor Strafverfolgung als Ministerpräsident wegfällt. 

Wenn. Noch ist es nicht so weit. Leider. Nur ein Sommergewitter. Bisher.

30.07.2010

Notiz 59: Ein Tod in den Marken

Wie in einer Schreinerei sei das gewesen, ein Hämmern – wummwummwumm! – und Sägen, außerdem habe ein Radio gespielt, und da seien so bekannte Lieder gelaufen, dass sie einfach mitsingen musste; und der Herr Professor habe auch mitgesungen, so ein bisschen. Nein, kein Problem, alles wunderbar!

Unsere Nachbarin M. strahlt, als sie das erzählt und damit unsere Frage beantwortet, wie es ihr ergangen sei, da in der Nähe von Rimini, wo sie letzte Woche war, in diesem Mai 2010. Es war kein Urlaub am Meer, dazu ist es noch viel zu kalt auch hier, dieses Jahr. Außerdem ist M. über 70 und Rentnerin und einen Urlaub bei Rimini könnte sie sich nicht leisten. Sie war dort vielmehr in einer Klinik, wo ihr ein neues rechtes Hüftgelenk eingesetzt wurde. Unter örtlicher Betäubung. Sonst hätte sie das alles ja auch nicht mitbekommen, was sie da eben erzählt hat, strahlend, laut lachend, glücklich, dass sie so schnell wieder zu Hause sein kann und ohne die Schmerzen, die sie vorher kaum mehr schlafen ließen.
Und nicht nur ihr Mann G. freut sich mit ihr, auch wir. Schließlich erfahren wir dadurch ein weiteres Mal, dass auch hier in der italienischen Provinz die Fortschritte angekommen sind, welche die Medizin in den letzten Jahrzehnten so gemacht hat. Das beruhigt. Und bestärkt uns auch in unserer Überzeugung, dass es nicht an mangelnder Kompetenz der Ärzte oder unzureichender Ausrüstung des Krankenhauses in Senigallia gelegen hat, dass dort vor wenigen Tagen die Mutter unseres Freundes P. gestorben ist, im Alter von 83 Jahren.

Italien – genauer: die Marken, also jene noch immer weithin so unbekannte, vom Tourismus noch nicht entdeckte Region zwischen Adria und Apennin – ist seit Jahren unser Lebensmittelpunkt, also nicht mehr Ferien- oder Urlaubsort. Und so lernen wir eben auch jene Aspekte kennen, auf die man nicht achtet, wenn man irgendwo Urlaub macht (und Glück hat): Alltagssorgen; schwer zu lösende Probleme; Streit, z.B. mit Handwerkern; schlimmes Wetter; Krankheiten; Tod.
Und wir erleben die Unterschiede zu dem, was wir aus Deutschland kennen. Im Umgang mit dem Tod zum Beispiel. Ich habe im Lauf meines Lebens viele Menschen zur letzten Ruhe begleitet. Hier erfahre ich Neues. Was ich bisher kannte: der oder die Tote verschwindet. Wird separiert, aufbewahrt, entfernt, bis zur „Beisetzung“, die eine Woche oder noch länger nach dem Tod stattfindet. Fast eine Art Kontaktsperre. Allenfalls kurz vor dem „letzten Gang“ die Gelegenheit, noch einen Blick zu werfen auf die Leiche, ein paar Minuten zum Abschied, ehe der Sarg endgültig geschlossen wird.

Hier: P. hat uns eingeladen. Um vier Uhr nachmittags sollten wir kommen, in die Camera Mortuaria (ganz wörtlich: Totenkammer). Ein schlichter, nüchterner Raum im Krankenhaus, wo die Mutter am Morgen starb. Hier liegt sie nun, aufgebahrt im Sarg. Um den Mund dieser spöttische Zug wie immer, auch beim letzten Abendessen vor wenigen Wochen. Ich saß an ihrer Seite, sie hatte es bestimmt, so wie sie es gewohnt war, zeitlebens.
Bis kurz vor acht Uhr abends kommen sie und nehmen Abschied. Verwandte, Freundinnen und Freunde, Bekannte von ihr, von ihrem Sohn. Anders als ich es kenne: persönlicher, direkter, körperlicher. Sie streicheln der Toten die Stirn, die gefalteten Hände. Eine junge Frau, die lange für sie gesorgt hat, nachmittags, auch abends, findet ihre Lippen zu blass. Sie schminkt sie, dezent. Ich meine, die Stimme der Mutter zu hören mit der Bitte, eher: der Order: eine Zigarette! Eine dieser langen, dünnen Zigaretten, von denen sie bis kurz vor ihrem Tod so viele geraucht hat, jeden Tag.
Manche der Besucher weinen, verhalten oder hemmungslos, wie die junge Frau mit dem Lippenstift. Manche stehen wie versteinert. Auch ich wechsele zwischen diesen Extremen. Ebenso wie P.
Kühl ist es hier in der Camera Mortuaria, natürlich. Draußen, wo wir mit unserem Freund ab und zu ein bisschen reden, ist es warm, einer der ersten richtigen Sommertage in diesem Jahr, wolkenlos, heiter, windstill.
Wir haben Zeit, ganz viel Zeit. Wir nehmen Abschied. Am frühen Abend auch, von P.s Freundin hereingebracht, seine Tante, die Schwester der Toten, 88 Jahre alt, so klein, so gebrechlich, leicht verwirrt. Sie kann den Blick nicht abwenden vom Sarg. Immer neue Tränen.

Am nächsten Tag, um halb zwei Uhr nachmittags, erneut in der Camera Mortuaria, noch eine Stunde Zeit – bis zur Endgültigkeit: ein riesiger weißer Mercedes mit Kreuz auf dem Dach fährt vor. Sachliche Männer entsteigen, mit Papieren, Köfferchen. Nach endlosen zehn Minuten, in denen P. allein da drinnen ist, wird der geschlossene Sarg herausgefahren und in den Mercedes geschoben. Aus dem Schatten der Pinien im Hof des Krankenhauses gleitet der Wagen hinaus auf die Straßen von Senigallia.
Eher ernüchternd – für mich – dann das Funerale im Duomo, der Hauptkirche der Stadt, eingeläutet von einer blechernen Glocke mit müde schleppenden Schlägen. Ein Ritual ist ein Ritual ist ein Ritual, wie auch bei uns, hier katholisch natürlich. Der Priester da vorn am Altar im langen weißen Rock mit allerlei roten Zierstreifen kommt mehrmals ins Stottern, verliert den Faden – irgendwie unprofessionell. Seine persönlichen Worte offenbar Textbausteine, mit geübter Emotion vorgetragen. Die Hostien, die er irgendwann reicht, nehmen nur ganz wenige, fast nur Frauen, ein paar überraschend junge darunter, modern aussehende.

Dann zum Friedhof, etwas außerhalb von Senigallia, wunderschön auf einer Anhöhe gelegen. Hinter dem prunkvollen Mercedes ein paar betagte Kleinwagen, zwei Mittelklasse-PKWs, ein SUV. Lang der Weg vom Parkplatz zu dem mehrstöckigen Grabhaus. In der dritten Etage ist ein Schacht offen. Auch heute strahlt die Sonne vom wolkenlosen Himmel. Quälend lang dauert auf einem altertümlichen Hebegerät das Hochpumpen des Sarges. Als er dann mit einiger Mühe hineingeschoben ist, beginnt ein geübter Maurer die Öffnung zu schließen, zügig Stein um Stein, der Zement mit der Kelle, der Glattstrich. Der Beerdigungsunternehmensbeauftragte im korrekten Anzug mit Krawatte – als einziger hier – beobachtet, bittet schließlich P. um die Unterschrift: alles in Ordnung. Tutto a posto. Nur die Tante will es noch immer nicht glauben. Mit leergeweinten Augen starrt sie in die Höhe: É morta, murmelt sie, mia sorella, é morta.

Am Abend treffen wir sie und P. und seine Freundin in einem Restaurant in Corinaldo zum Essen. Das wiederum ist so ähnlich wie der Leichenschmaus in Deutschland, auch Scherze haben zunehmend ihren Raum. Das Essen ist gut, der Wein ist gut, die Tante nimmt als einzige auch ein Dessert. Espresso für uns alle. Ein Varnelli, ein Grappa. Gegen elf der Abschied: Ci vediame, a presto, wir sehen uns bald wieder!

Der Satz ist so banal, weil er so wahr ist: das Leben geht weiter.

08.06.2010