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Notiz 58: Leipzigreise

Immer wieder mal stelle ich kopfschüttelnd fest, wie viele unbedeutende Albernheiten aus meiner Kinder- und Jugendzeit mir auch heute noch in den Sinn kommen, nach einem halben Jahrhundert mit doch wirklich wichtigeren Dingen. Aus gegebenem Anlass meist, so wie jetzt Mitte März 2010, als ich die Reise zur Leipziger Buchmesse antrete: im Flugzeug von Bologna nach Köln fällt mir ein, was ich – selbst Gott weiß wahrscheinlich auch nicht mehr, wann und wo – gehört oder gelesen habe: Mein linkes Bein, das reibt sich leise, wenn ich zu Fuß nach Leipzig reise. Natürlich bin ich nicht zu Fuß unterwegs. Mit dem Auto vom Adagio nach Senigallia, mit dem Zug nach Bologna Centrale, Aerobus zum Flughafen, im Airbus 319 nach Köln, Verkehrsverbund-Rhein-Sieg zum dortigen Hauptbahnhof und Chlodwigplatz, am Tag darauf, weil der Anschlussflug zu knapp zum direkten Umsteigen ist, wieder von Köln/Bonn nach Leipzig. Erste Überraschung: um Geld zu sparen bin ich erstmals nur mit Handgepäck unterwegs. Und werde als einziger am Sicherheitscheck beiseite gewunken. So was ist mir zuletzt in den späten 70er Jahren passiert, während der RAF-Hysterie in der BRD, auf der Autobahn kurz vor Rhein-Main-Frankfurt. Offenbar sehe ich heute immer noch gefährlich aus, so wie damals. Und wirklich – ich werde entwaffnet! Ahnungslos habe ich in meiner Tasche: Rasierschaum; Shampoo; Zahnpasta, jeweils mehr als harmlose 100 ccm. Meine arglosen Scherze stoßen auf eisige Mienen. Damals übrigens durfte ich nach scharfer Kontrolle weiterreisen und sogar meine beiden Kinder weiter im Auto mitnehmen. Heute wird alles konfisziert und in eine bereitstehende Mülltonne versenkt. Die Zeiten sind eben viel riskanter geworden. Im Vergleich zu Bin Laden war Andreas Baader offenbar ein Rinaldo Rinaldini. Überraschung Nummer 2: nach der Landung in Leipzig rollt der Flieger noch ewig über endlose Rollbahnen und nach dem Aussteigen steht mir ein Fußmarsch bevor, wie ich ihn bisher nur ein Mal so zu bewältigen hatte – in Minneapolis, Minnesota, USA. Beim Rückflug natürlich das gleiche nochmal; jetzt im Besitz der Information, dass dies hier einst ein Heimathafen der sowjetischen MIGs war. Ach so. Naja, dann… Die Buchmesse übrigens hält, was Erzählungen und Berichte vorher versprachen. Auf sehr schönem Gelände in überschaubaren Hallen, trotz der gestiegenen Besucherzahl nicht diese Hektik und das nervige Gedränge wie in Frankfurt. Auch sehe ich hier mehr „normale“ Besucher, nicht diese Mengen von Pradadamen und auf intellektuell gestylten Fielmannbrillenträger (die meisten vermutlich mit Fensterglas). Außer mir, so lese ich in der Leipziger Volkszeitung, sind weitere 1499 Autorinnen und Autoren hier. Ich rechne: wenn auch nur die Hälfte davon eine halbstündige Lesung absolviert, gibt es während der rund 32 Stunden, an denen die Messe geöffnet hat, 375 Stunden Lesungen. Diese Überlegung mindert meine leichte Enttäuschung, dass zu meiner Performance am ersten Tag um halb 12 nicht gerade die Massen geströmt sind. Außerdem ist mein Buch, wenn ich richtig informiert bin, nicht das einzige, das hier neu auf den Markt kommt. Und eine weitere Überraschung, die Nummer 3 also, erlebe ich: an dem wunderbar warmen Vorfrühlingsfreitag besuche ich die Innenstadt von Leipzig. Von meiner ersten Stippvisite im Oktober 1987 – auf der Liedertournee mit Perry Friedman und weiteren Kolleginnen und Kollegen durch die DDR gab es auch ein Konzert in Leipzig – habe ich nur noch verschwommene Erinnerungen. Jetzt komme ich aus dem Staunen nicht heraus. Schon der mächtige, fast hundertjährige Hauptbahnhof mit seinen neuen Geschäften und Restaurants auf drei Etagen erinnert mich – schon wieder… – an die USA, etwa die Mall of America in Minneapolis. Dann der Gang durch die Straßen mit den vielen eindrucksvollen, restaurierten Patrizierhäusern und Einkaufspassagen. Die Formulierung“Klein-Paris“ scheint gar nicht übertrieben, zumal auch hier immer mal wieder neue und gelungene Architektur zu sehen ist. Und vor allem: wo ich auch hintrete – Geschichte. Die Nikolaikirche. Das Gewandhaus. Von der Aussichtsplattform auf dem MDR-Turm -Verzeihung: Panorama Tower – sieht man unweit das Völkerschlachtdenkmal. Eine Cappuccino-Pause mache ich in der Mephisto-Bar in der Passage Auerbachs Keller. Und natürlich, zu seinem 325. Geburtstag herausgeputzt, Johann Sebastian Bachs Wirkungsstätte, die Thomaskirche. Schade nur: zum Jubiläumskonzert morgen bin ich nicht mehr hier. Bitte? Ach ja, ich weiß, ich weiß, was viele mir entgegenhalten, wenn ich das erzähle: dass da eben viele Millionen hineingepumpt wurden, nach der „Wende“. Aber in Köln zum Beispiel sind ebenfalls hineingepumpte Millionen in riesigen Baugruben versickert oder haben private Geldsäcke geflutet. Und ich habe gerade wieder am Breslauer Platz vorm Kölner Hauptbahnhof und in der Severinstraße den Eindruck gehabt, als sei hier eben erst der letzte Krieg zu Ende gegangen. Und apropos Krieg: wenn ich lese, dass dieses neue Deutschland weltweit die Nummer 3 bei den Rüstungsexporten ist, dass diese Ausgaben um 100 Prozent gestiegen sind und in diesem Jahr vermutlich die 30-Milliarden-Grenze „knacken“ werden, dann sehe ich so ein Ergebnis wie in der Leipziger Innenstadt noch immer viel lieber… Tags darauf also bin ich dann schon wieder auf der Rückreise. Mit dem Hotelshuttle zum Flughafen Leipzig/Halle, kilometerlanger Fußmarsch zum Terminal, der Flug nach Köln/Bonn und von da aus wieder nach Bologna, mit dem Zug nach Senigallia und dem Auto nach Hause. Und auf dieser letzten Zugfahrt fällt mir ein weiterer Scherz aus meinen frühen Jahren ein, die Geschichte von dem Holzfäller aus dem tiefsten Bayerischen Wald, der im Preisausschreiben eine Reise nach Paris gewinnt. Was ein ähnliches Unternehmen für ihn ist wie jetzt für mich: Auto, Bus, Regionalbahn, Schnellzug, Eurocity von München an die Seine. Und, nach seiner Rückkehr von den Freunden mit Fragen bestürmt, wie es denn so gewesen sei, sagt er (und das könnte ich eben auch sagen, wenn die Freunde mich fragen): „Jo, doch ganz nett, die Stadt. Aber aaarg abgelegen halt…“ 30.03.2010

Notiz 57: Entzug

Drei Wochen! Einundzwanzig Tage!! Nicht zu erfassen die gefühlte Zeit in Stunden, in Minuten – und jetzt, wo ich das schreibe, hält der Zustand immer noch an, ein Ende nicht abzusehen…

Der Zustand: ein Leben ohne Laptop. Wie das? Nun, eine kleine falsche Bewegung am Abend des 8. Dezember: beim Versuch, den Kopfhörer wieder anzuschließen, versehentlich in die Buchse für USB-Stecker geraten – ach wo!! überhaupt keine Gewalt!!! Und trotzdem: Licht aus, totale Finsternis; also auf dem Bildschirm. Nicht wieder in Gang zu kriegen, das Ding, das blöde. Auch nicht mit dem Zauberknopf „Reset“ auf der Unterseite des Rechners. Dass man hierzu übrigens „mit Hilfe einer aufgebogenen Büroklammer“ hantieren soll, scheint mir angesichts der Hightech-Sphäre, in der sich diese Wunderkreationen menschlichen Schöpfergenies bewegen, ganz unangemessen steinzeitlich. Aber es funktionierte ja sowieso nicht, wie gesagt.

Also in den nächsten Laden, der Hilfe in solchen Fällen verspricht. Vielversprechend der Name: „Group TECNODATASYSTEM – team work for your business“, und das in dem italienischen Dorf hier. Aseptisch cleanes Büro. Die Arbeitstische hinter der großen Glasscheibe voller solcher Geräte wie das meine, die Deckel hochgeklappt, flotte fixe Jungs davor oder am Handy, alles signalisiert „pronto soccorso“ (Erste Hilfe), das Gefühl, hier wird dir geholfen, schnell und kompetent. Nur leider, leider, mein Vorteil mein Pech: auf meinem Gerät ruht noch die magische Aura der Zwei-Jahres-Garantie. Das bedeutet: zurück nach Hause, den Kaufbeleg suchen und zum Glück auch schnell finden. Ein Anruf bei der Werksvertretung in Ratingen, weil in Deutschland gekauft, dort großartig-großzügig die Versicherung, dass die Garantie weltweit gelte, also selbst in Italien. Was dann allerdings auch bedeutet, dass die fixen flotten Junges ihre ebensolchen Finger und ihre unübersehbare Kompetenz allein dazu nutzen dürfen, das Gerät nach Mailand zu verschicken. Mein Glück dabei: die Werksvertretung meiner Laptop-Marke gilt als die schnellste im Lande; mein Pech: Weihnachten, Silvester, Neujahr. Aus der hoffnungenweckenden Einschätzung „innerhalb von fünf Arbeitstagen normalerweise wieder zurück“ wird deshalb nix. Ungewollt, ungeplant, ungewöhnlich still also die heilige Nacht in diesem 2009. So wie die Tage vorher. Und danach.

Entzug. Doch! Wirklich und wahrhaftig Entzug. Erscheinungen, wie ich sie kenne, wenn ich – wie schon mehrfach – aufgehört habe mit dem Rauchen. Nervosität. Das Gefühl, es fehle mir etwas. Die Angst, Wichtiges zu verpassen, man ist doch an die Flut der Emails so gewöhnt und an die Informationen und Nachrichten aus aller Welt. Die Unruhe der Ungewissheit, ob Dringendes vielleicht nicht erledigt wurde. Stress. Stress.

Aber Augenblick mal! Das darf doch wohl nicht wahr sein! Ich bin doch noch immer ein Mensch, ein erwachsener Mensch, ein sehr erwachsener Mensch, mit 70 Jahren! Soll ich mich tatsächlich von einer unausgereiften Maschine (den Geist aufgeben wie oben geschildert ist einfach unausgereift!) – soll ich von sowas abhängig sein??! Bleiben wir doch mal sachlich. Verhalten wir uns ab- und aufgeklärt. Angemessen ausgedrückt also: cool.

Was fehlt mir denn, wenn dieses Ding da nicht da ist?? Fehlt mir überhaupt etwas? Aber klar doch! Was früher, in den schönen Zeiten des von uns kopierten französischen Existenzialismus’, nach dem Frühstück der Griff zur filterlosen schwarzen Fluppi war, wurde in der Phase des antinikotischen Wellnessianismus der leichte Tipp auf den Startknopf des schnörkellosen edelgrauen Läppi. Tief reingezogen dann statt Rauchwolken die Infoschwaden von  Amazon bis zdf.de. Der körperliche Befriedigungswert: in etwa der gleiche. Mental in beiden Fällen die selbstkritische Einschätzung, dass so richtig gesund weder das eine sei noch das andere. Und irgendwie pervers: sowohl bei der nichtkonsumierten Zigarette wie bei den verpassten Neuigkeiten aus aller Welt das Gefühl eben, da fehle einem doch etwas, zum Glück. Zum Glück? Unsinn: zum Glück fehlte da nichts. Die Erscheinung also eher ein gefühlter Irrationalismus…

Ernster zu nehmen die Tatsache, dass doch wirklich so einiges fehlt. Die Telefonnummern und Anschriften zum Beispiel der Weihnachts- und Neujahrswünsche-Adressaten ruhen allein auf der Festplatte. Die bequemen Möglichkeiten, die Kontenstände abzurufen, ebenso. Es müssten zudem Änderungen vorgenommen werden auf der Homepage, neue Annoncen geschaltet, elektronische Buchungsanfragen abgerufen und beantwortet werden. Geschieht dies alles nicht, drohen Einkommensverluste. Sicher: nicht in den Dimensionen von Hyper Real Estate oder Porsche. Aber immerhin doch! Und das unterscheidet den Entzug eines Computers von dem einer Cigarette: in letzterem Fall wächst das verfügbare Guthaben…

Ernsthaftes Resumee, heute, am 27. Tag ohne: ziemlich blöd, irgendwie, dieses Gerede von Entzug und Unverzichtbarkeit! Man kann diese Erscheinungen sehr wohl ertragen, vor allem, wenn man sie abmildert – durch das Zurückgreifen auf die seit Jahrhunderten bewährte Methode, wichtige Dinge (heute: „Daten“) schriftlich festzuhalten, mit Tinte oder Kuli auf Papier; oder durch das Schaffen von Ersatzbefriedigungen: das Lesen eines guten Buches übertrifft vielleicht doch immer noch den Lustgewinn, den man aus nervigem stundenlangem Rumstochern in Internet-Angeboten (sprich: „Surfen“) ziehen mag. Bei mir kommt hinzu: ein Uralt-Laptop, mit nur einem Laufwerk und WIN98 als Betriebssystem – doch, das gab es mal, Luther hat, glaube ich, seine Bibelübersetzung damit gefertigt. Ich habe den drögen schwarzen Kasten sogar – mit ziemlicher Mühe – einrichten können für das Abrufen von Emails; was allerdings ewig dauert, bis die heruntergeladen sind. Aber die Erfolge stellen sich langsam ein: seit vier Tagen träume ich tatsächlich nicht mehr so alpiges Zeug wie zuvor, sondern so absurd-heiter-komische Dinge wie von dem Besuch, den ich weiß der Geier warum einem SPD-Parteitag abstatte, auf dem ein neues Programm für die nächsten 50 Jahre beschlossen werden soll.

Trotz alledem aber: so langsam und allmählich könnte dieses blöde Ding da doch wirklich aus Mailand zurückkommen und wieder vernünftig funktionieren wie zuvor. Verdammt nochmal!!! Sonst… –

 

PS: Am 8. Januar, genau einen Monat nach dem Absturz, erreicht mich auf dem Handy in einem Café in Ostra die Nachricht: Ihr Laptop ist da. Und alle Daten sind noch vorhanden. Nur das Mutterbrett (oder wie heißt  dieses Ding „Motherboard“ auf deutsch?) sei ausgetauscht worden. Na dann! Hoffen wir das Beste, liebe User…

  1. Januar 2010

Notiz 56: Es gibt sie noch: Alternativen

Vielleicht drei Kilometer aus Chiaravalle hinausfahren, sagt er, dann ein Kreisverkehr, gleich die erste Ausfahrt nehmen, über eine Brücke, also ein Brückchen eher, direkt dahinter die kleine Straße nach links, eher ein Weg, zuerst noch geteert, dann unter der Brücke der Autostrada 14 durch; und dort, so sprudelt der freundliche Italiener weiter, würde er das Auto stehen lassen und zu Fuß weiter gehen, immer weiter, immer weiter, ziemlich weit sogar…

Wir wären wahrscheinlich trotzdem umgekehrt, dort, nach der Brücke, in der Dunkelheit im Nirgendwo, wären da nicht die anderen gewesen, einzeln, in Paaren, in kleinen Gruppen. Alle auf dem Weg zu dem Veranstaltungsort mit dem kryptischen Namen Casina di caccia („Jagdhaus“ – von dem ursprünglichen Verwendungszweck ist nur der Name geblieben…). Es ist schon dunkel natürlich, an diesem 3. September 2009, viertel vor neun Uhr abends. Nur die flackernden Fackeln alle zwanzig, dreißig Meter in Aluminiumtellern auf dem Boden weisen den Weg. Eine fast konspirativ wirkende Atmosphäre-

Und dann öffnet sich endlich, hinter einer weiteren Gruppe von Büschen und kleinen Bäumen, eine Lichtung. Stühle sind in  Reihen aufgestellt, 250 etwa, davor eine Bühne, rechts und links davon an zwei Metallsäulen die großen Boxen, Querstangen darüber mit den Scheinwerfern. Wir sind angekommen, tatsächlich, dort, wo das Konzert stattfinden soll von Gianmaria Testa. Die ersten sechs, acht Reihen sind schon besetzt, wir nehmen die nächsten freien Plätze, schnell wird es voll. Und es sind nicht genug Stühle da, viele müssen stehen oder sich auf den Boden setzen, zwischen den Reihen oder daneben. Schließlich werden es, so schätze ich, vierhundert, fünfhundert Besucher sein.

Ein Szenario wie aus einem Film. Links und rechts von uns als natürliche Begrenzung Baumgruppen und Büsche, hinter der einen schiebt sich der Vollmond in den klaren Himmel.

Kurz vor halb zehn kommen dann zwei Männer auf die Bühne, im Licht der Scheinwerfer umtanzt von Mücken, Faltern, Schmetterlingen. Zuerst der füllige Gianmaria Testa, rundes, lebensfrohes Gesicht mit mächtigem Schnauzbart. Liedermacher. Einer von den so vielen, die es hier in Italien gibt, viel viel mehr sind es als in Deutschland, und auch ungleich höher eingeschätzt, alle, auch wenn es natürlich wie überall die Unterschiede gibt im Bekanntheitsgrad, der Zahl der Fans, der verkauften Scheiben. Testa spielt sozusagen in der Regionalliga, auch von unseren Freunden kennen ihn nicht alle. Das gleiche gilt für den anderen Mann auf der Bühne, hager, schmal, grauhaarig: Erri De Luca. Schriftsteller und Übersetzer.

Die Begrüßung durch eine Frau, sie freut sich über die große Zahl der Besucher, dankt den beiden Künstlern und weist darauf hin, dass der Abend kostenlos für das Publikum ist, weil organisiert und gesponsert von einer Reihe von Alternativen der Provinz Ancona und verschiedenen kleinen Städten der Gegend hier, die ein Projekt zum Schutz und der Renaturierung eines kleinen Flusses da betreibt.

Erri De Luca beginnt. Geschickt greift er das Stichwort Wasser auf. Und ist schon nach wenigen, flüssig und mit warmer Stimme vorgetragenen Sätzen bei einem der Themen, die Italien derzeit umtreiben. Übers Wasser, sagt er, kommen sie zu uns, die vielen Flüchtlinge, die es in ihren Heimatländern nicht mehr aushalten, ohne Arbeit, ohne Einkommen, ohne Schulen, ohne Hoffnung. Vor ein paar Jahrzehnten, besonders aber im 19. Jahrhundert – so erinnert er – waren es wir Italiener, die aus den gleichen Gründen geflohen sind, oft auch übers Wasser, nach Amerika. Dankbar, dass wir dort aufgenommen wurden. Und wie verhalten wir uns heute? Gerade hat diese Regierung die Gesetze verschärft und die Strafen erhöht, die Polemiken nehmen täglich zu, gegen die „clandestini“, die „Illegalen“, die mit ihrer Ankunft automatisch, weil ohne Aufenthaltsberechtigung, Gesetzesbrecher sind; viele hier reden bereits es ganz offen und aggressiv von „Verbrechern“. Eine traurige Entwicklung, sagt De Luca, nein: eine Schande. Und er bekommt Beifall, oft und viel.

Wann haben wir zuletzt einen solchen Abend erlebt? Wo das Publikum solchen Sätzen und Gedanken Zwischenapplaus spendet. Wo ohne Bösartigkeit, ohne unfaire Attacken, ohne falsche Beschuldigungen dennoch Klartext geredet wird. Wo ein Mann spricht (und auch gelegentlich zur Gitarre greift und mitsingt), 59 Jahre alt, der die Dinge erlebt hat, von denen er erzählt, nicht nur angelesen, weil er so vieles war in seinem Leben, nicht nur Schriftsteller, führender Kopf der außerparlamentarischen Bewegung „Lotta continua“, aber auch Arbeiter, Lagerist, Maurer und Fahrer für Hilfsorganisationen in den Wirren der Balkankriege zum Beispiel.

Zwischen seinen Erzählungen immer wieder dann die Lieder von Gianmaria Testa. Auch er lange Zeit nicht als Künstler unterwegs, sondern – Bahnhofsvorsteher, in Cuneo, Piemont. Keine politischen Lieder wie wir sie kennen. Sondern kleine Beschreibungen, Liebeslieder, melancholische Gedichte, einfache, von Jazz und Folk geprägte Melodien und Gitarrenbegleitung. Aber durch seine Anmoderationen, seine Zwischenbemerkungen, seine ganze Haltung wird klar: da ist ein politischer Mensch, einer der auf jener Seite steht, die es eben auch immer noch gibt, hier in Italien. Nicht auf der anderen Seite, die uns jeden Tag so geballt ins Gesicht schwallt, aus den allermeisten Mainstream-Medien, kontrolliert vom Regierungschef (und auch aus den paar wenigen anderen: die das kritisieren, beklagen, darunter leiden, aber eben auch breit darüber berichten); diese zunehmend beängstigende Entwicklung dieses schönen Landes unter der – jaja doch: gewählten…- Regierung eines Mannes, der längst über das Stadium eines Clowns, eines Spott und Mitleid verdienenden Alt-Machos und peinlichen Sexsprücheklopfers hinaus ist, eine wirkliche Gefahr geworden ist für die Demokratie hier und eine zunehmende Belastung auch für Europa.

Das alles ist, dieser Abend hier macht es so wunderschön stimmungsvoll und heiter deutlich, in der Tat nur die eine Seite. Es gibt sie noch: die Alternativen. So wie bei uns in Deutschland damals in Zeiten der APO, später der Bewegungen (Frauen-, Umwelt-, Anti-Atom-, Friedens-). Wo etwa ein Schriftsteller wie Peter Maiwald seine Gedichte und Aphorismen las und die Gruppe Zupfgeigenhansel ihre Lieder sang, lustige, spöttische, melancholische, Liebes-Lieder. Manchmal – zusammen mit anderen – in vollen Fußballstadien oder auf den Rheinwiesen von Bonn und Düsseldorf. Oft aber auch vor einem Publikum irgendwo in der Provinz und etwa in dieser Zahl wie heute bei Chiaravalle, inmitten der mondüberglänzten warmen Pampa der Regien Marken.

Auch diese Seite also gibt es noch, hier in Italien. Wie es in Deutschland aussieht, weiß ich nicht: darüber wird nicht so viel berichtet. Bevor ich hierher gegangen bin, nach Italien, war es schon ruhiger geworden, die Stimmen leiser, die Veranstaltungen seltener, die Besucherzahlen kleiner. Ich kann also nur hoffen, dass es so etwas auch in Deutschland noch gibt; weil Widerspruch, Kritik, Protest und die Artikulierung anderer Ideen und Wege unverzichtbar sind, auch heute, gerade heute, überall auf der Welt.

Das macht diesen Abend des 3. September 2009 so wichtig. In diesen Zeiten, wo die andere Seite, die herrschende, arrogante, unsoziale, militärisch-militante und dennoch die Wahlen gewinnende, so übermächtig scheint, so ohne irgendeine Alternative.

Aber eben: nur scheint, zum Glück.

  1. Oktober 2009

Notiz 55: Zellen-Phantasien

Wie schwer es ist, in einem Hotel ein halbwegs passables Einzelzimmer zu finden, weiß ich schon seit Jahrzehnten. Jedenfalls zu einem Preis, den zu zahlen ich (oder früher etwa der Veranstalter eines meiner Auftritte) bereit war. Kein großes Kunststück ist es andererseits, mit dem Jahreseinkommen jener besseren Menschen von Ackermann bis Zumwinkel einen Raum als Übernachtungsstätte zu mieten, der die Abmessungen eines Konzertsaals in einer deutschen Kleinstadt aufweist. Wobei diese Dimension dann wieder ganz oft – wie ich höre – dazu führt, dass die niederziehende Verlorenheit des Hotelgastes darin durch die selbstlose Aufnahme einer weiteren Person – in der überwiegenden Zahl der Fälle weiblichen Geschlechts und weder verwandt noch verschwägert – abgewendet werden muss. Dass dies nicht so breit durch die Presse geht wie jüngst bei Berlussolinis vergleichbaren Praktiken liegt an der Verschiedenheit sowohl der verwickelten Personen als auch der deutschen und italienischen Medien. 

Aber zurück zur Fahndung nach einem Einzelzimmer. Ein solches zu finden ist auch jetzt noch ein Problem, im Jahr 2009 und an der italienischen Adriaküste, wo ich ein paar Tage Auszeit nehmen will vom Paradies Adagio. Meine Unlust, im Internet etwas zu suchen und zu buchen, führt erwartungsgemäß dazu, dass ich mir eine ganze Reihe von Absagen an klimatisierten Rezeptionen abholen darf, mit Bedauern beiderseits; ehe ich, ebenfalls erfahrungsgemäß, ein Angebot annehme, das mir im HOTEL TRITONE in Porto San Giorgio gemacht wird. Das Zimmer ist halbwegs passabel, den Preis, inklusive Frühstück (jaja, ich weiß, ich weiß: italienisch…) bin ich bereit zu zahlen. Schließlich halte ich mich da ja auch nicht so oft auf, das Meer ist drei Minuten entfernt, und es gibt außer zahlreichen Restaurants und Cafes in der Nähe auch noch – wie ich am nächsten Tag entdecke – einen durchaus geräumigen Swimmingpool unter üppigen rosablühenden Oleanderbäumen und Palmen und mit nur einer Handvoll überraschend stillen italienischen Gästen.

Und dann – am frühen Abend – tritt vor meine geistigen Augen ein Bild, es verdrängt den aktuell genossenen Blick von dem winzigen Balkon auf die windgepeitschte, wenn auch sonnenüberflutete Adria. Ich sehe dieses mein Einzelzimmer hier im dritten Stock des TRITONE plötzlich als Zelle. Als Einzelzelle. So eine, wie ich sie damals als Rechtsreferendar in der Ausbildung hin zum vollen Juristen besichtigen durfte, in München-Stadelheim. Nicht nur die Abmessungen, auch die Ausstattung: der Kleiderschrank, Arte Povera in weißem Schleiflack, mit aufgeleimtem Spiegel, aus der gleichen Kollektion ein winziges Tischchen, ein Stuhl und die Pritsche, sorry: das Bett, 90 mal 1,90. Aber: ein Farbfernseher! Der allerdings könnte ja auch als Folterinstrument dienen, für ein Nonsense-Boarding mit den hierzulande gezeigten Programmen. Die „Nasszelle“ in meiner Zelle allerdings wirklich schon ein Quasi-Luxus, mit Dusche und WC (statt Kübel). Und – eine erstmals gesehene, großartige Erfindung für so kleine Räume: der Deckel der Toilette ist als Schale geformt, mit einem kleinen Ablaufloch – wenn man ihn zuklappt, wird aus dem Teil ein Bidet… Aber! – rufe ich mich zur Ordnung – aber der Blick aufs Meer! Naja, den haben sie in Guantánamo auch…

Plötzlicher Paradigmenwechsel: die Zelle nicht als Raum im Knast, sondern – ich erinnere mich gut (und gerne) an meine Tage im Jahr 2002 in der Benediktiner-Abtei Grüssau – im Kloster auf Zeit. Auch da die Übereinstimmung, in den Abmessungen wie in der Einrichtung, Pritsche, Schrank. Tischchen, Stuhl. Allerdings kein Fernsehapparat. Klar: das wäre in diesem Setting – der teuflische Versucher! Angesichts dessen, was heute selbst in normalen Familienprogrammen an Nacktem und Geilem und Zotigem auf die Betrachter niederstrahlt, wäre selbst der tapfere Heilige Antonius von Padua mit seinem einfachen Kruzifix niemals so ungesündigt klar gekommen wie in Wilhelm Buschs Comicstrip.

Meine Zellen-Assoziationen überschlagen sich. Ich habe meine kleinen Gehirnzellen, auch sie grau wie mein Haupt seit langem, nicht mehr unter Kontrolle, eher umgekehrt. Wie war das noch mit diesen Zellen der verschiedenen terroristischen Organisationen? Und deren Counterpart, die Geheimdienste, bilden die nicht etwa auch – Zellen? Waren die jeweils entsprechenden Neugründungen dann Frisch-Zellen? Und wer oder was pflanzte sich da durch Zell-Teilung fort? Zellen braucht man nicht nur in Batterien als Stromquellen. Selbst ein so weit von RAF und CIA entferntes Computerprogramm wie beispielsweise MS Excel hat in seinen Tabellen, nach Spalten und Zeilen, als kleinste Einheiten – Zellen! Ich fange an zu rotieren. Wenn ich hier jemand mit aufs Einzelzimmer nähme – wäre das auch eine Zell-Teilung? Wie bringe ich hier und jetzt Zell am See in diesen Text? Und die Zeller Schwarze Katz?

Ruhig! Gaaanz ruhig!!!, sage ich mir, und lege mich in meinem EinZELLzimmer auf die Prit…, äh, aufs Bett, schalte den teuflischen Versucher ein, und während ich über dem unsäglich albernen Programm auf RAI Uno eindämmere, kommt mir als letzte Frage in diesem Zusammenhang: ist Zellulose vielleicht eine bisher nicht wissenschaftlich verifizierte Form der Psychose?

Und wenn! Egal! Ich habe ein Einzelzimmer gefunden, halbwegs passabel, zu einem Preis, den ich zu zahlen bereit bin. Da lasse ich mich doch nicht verrückt machen, etwa durch so idiotische Überlegungen wie: ob und was das alles mit Zellophan zu tun haben könnte…                                                                                    

  1. August 2009

Notiz 54: LUI. E l’altro.

„Dipende da LUI“, seufzt Giordano, der bullige Chef der Baufirma, wenn wir ihn schon wieder fragen, ob er denn rechtzeitig vor der Saison fertig wird mit den Bauarbeiten am Haus, die ständig unsere Ohren und Nasen quälen. „Das hängt von IHM ab!“ Sein Blick schwenkt dabei nach oben, kein Zweifel, wer mit LUI gemeint ist; leichte Zweifel allenfalls an der Ernsthaftigkeit seiner Aussage, dass da oben hinter den schwarzgrauen Regenwolken einer sitze (stehe? schwebe?), der es allein nach seinem Gusto ewig weiter so gießen lässt, dass an ein Arbeiten im Freien nicht zu denken ist.

Dennoch: LUI ist hier in Italien viel gegenwärtiger als in der BRD, und auch viel personaler. Das habe ich schon vor Jahrzehnten gelernt beim Lesen von Guareschis „Don Camillo und Peppone“, wo LUI in der Figur des Christus am Kreuz ständig präsent ist als Gesprächspartner und Entscheidungshelfer des oftmals überforderten Gemeindepfarrers. Für einen Transprotestanten wie mich – als „evangelisch“ habe ich mich ohne unangenehme Gefühle nur in meinen Kinder-Glaubens-Jahren bezeichnen können – ist der hierzulande noch heute lebendige Katholizismus voll von immer neuen Überraschungen (und Verirrungen), kleineren wie größeren. Beispiel für die größeren: die Institution des „Heiligen Stuhles“. Schon mal diese Bezeichnung! Unter leicht veränderten Bedingungen wäre, davon bin ich überzeugt, bestimmt auch ein „Heiliges Sofa“ entstanden. Und dann: die Be-sitzer dieses Möbels – im Lauf der zweitausendjährigen Geschichte reicht die Galerie vom frommen, gütigen Hirten über den intellektuellen Staatsmann bis hin zum widerlichen Wüstling. Als Papst aber genossen sie alle und immer den Respekt der Italiener und Italienerinnen. So wie auch jetzt der Deutsche Ratzinger. Und schließlich: zum Heiligen Vater wird einer (und natürlich niemals eine…) in einem Verfahren, das in dieser Welt des 21. Jahrhunderts einmalig ist: absolut undemokratisch, aber weltweit kritiklos akzeptiert, auch von jenen, die sonst bereits kleinere, erträgliche Abweichungen vom idealdemokratischen Tugendpfad lautstark anklagen.

Als Beispiel für die kleineren Verirrungen habe ich vor Augen jene in sechs, acht Reihen auf ein Tischchen montierten Opferkerzen aus Plexiglas, auch in ehrwürdig-eindrucksvollen Gotteshäusern wie etwa in Loreto, die nach Einwurf einer Münze in den angeschlossenen Automaten kürzer oder länger brennen, je nach dem Wert des Geldstücks eben und – vermute ich mal – eben auch nach der selbsteingeschätzten Schwere der begangenen Sünde.

LUI, will ich sagen, ist in Italien also auch heute noch allgegenwärtig. Es bekreuzigen sich unablässig sowohl die Witwe am Grab des Gatten, der eingewechselte Mittelstürmer auf dem Rasen von San Siro als auch die Passanten, wenn ein Leichenwagen mit Sarg oder ein Mönch auf dem Fahrrad vorbeirollen. IHN besuchen allsonntäglich in den Dorfkirchen, Kapellen, Domen und Kathedralen auch die überzeugtesten Kommunisten. 

Einmalig!

Wirklich? Nein! LUI ist nicht einmalig! Nicht mehr. In den letzten Jahren hat er Konkurrenz bekommen. Da ist „L’altro“. Der andere. Auch ein „er“. Mit ganz vielen ähnlichen oder sogar gleichen Selbsteinschätzungen wie LUI, aber auch mit von anderen verliehenen Zuschreibungen wie „allmächtig“, „gütig“, „gerecht“, „lieb“, „klug“, „erfolgreich“ und „listig“. Auch dieser andere schützt jene, die ihn anbeten. Er hilft dem, der ihn auf Knien darum bittet. Und er verfolgt alle, die ihm nicht die gebührende Ehre erweisen wollen. L’altro – mitdenkende LeserInnen wissen längst, dass ich von Silvio Berlusconi rede – hat sich bekanntlich schon vor längerer Zeit  mit Napoleon auf eine Stufe gestellt, und nun hat er offenbar viel von LUI gelernt und ist sogar dabei, ihn zu überrunden. Wofür LUI zwei Jahrtausende benötigte, das hat L’altro in ein paar Jahrzehnten geschafft: seine elektronischen Prediger und Verkünder lärmen in jedem italienischen Haus, meist mehrfach in den verschiedensten Räumen, und in allen Restaurants dröhnen sie von morgens bis abends in einer Lautstärke, dass im Vergleich dazu die Toccata von Bach, auf einer Orgel im Kölner Dom gespielt, klingt wie das sanfte Gemurmel eines kleinen Gebirgsbachs.

Und auch die Botschaften von LUI und L’altro gleichen sich: ich bin der Herr, dein Gott, du sollst keine anderen Götter neben mir haben, meine Lehren sind die allein selig machenden, wer mir nachfolgt, wird sitzen zu meiner Rechten, wer aber meiner spottet, den werde ich verfolgen bis ins dritte und vierte Glied.

Lange also kann es nicht mehr dauern, denke ich, dann wird Giordano auf unsere eingangs zitierte Frage antworten: „Dipende dal’altro!“ Weil der bald wohl auch das Wetter kontrollieren wird, in Italien.

  1. August 2009