ITA ING DEU

Notiz 53: Moderare la velocità

Auch mehr als fünf Jahre Leben in Italien und eine ganze Reihe wirklich wunderlicher Erlebnisse haben es nicht vermocht, meine in Jahrzehnten gereifte und gut abgehangene Überzeugung zu erschüttern: ich bin weiterhin tief gläubiger Atheist. Wenn etwas geschieht, was auch nach einigem intensiven Nachdenken rational nicht erklärbar scheint, verbuche ich es auf meinem Mentalkonto „Wiedervorlage – erneute Prüfung“; oder ich schiebe es gleich in die Abteilung AA („Achselzuckende Akzeptanz“). Ein Beispiel aus jüngster Zeit: Ich bin diese Straße schon Hunderte von Malen gefahren und kenne alle Verkehrszeichen, Warntafeln, Ortswegweiser und Informationsschilder vo Geschäften, Restaurants und Sehenswürdigkeiten. Und dann fällt mir vor ein paar Tagen ein Imperativ auf, gar nicht besonders groß oder in greller Farbe, einfach eine übliche Schrift für solche Texte, und dennoch ist das seither eingebrannt in die Festplatte meines Gehirns und ich komme nicht mehr davon los: MODERARE LA VELOCITÀ – MÄSSIGE DEINE GESCHWINDIGKEIT!

Ich beziehe das natürlich nicht allein darauf, wofür es hier angebracht ist, also den Fuß vom Gaspedal zu nehmen, weil die Straßenführung gleich eine moderate Fahrweise nahelegt. Und eher nebenbei denke ich, wie gut das passt in die hierzulande gepflegte Art des Fahrens mit mächtig viel PS unterm Hintern, egal ob auf zwei oder mehr Rädern; nämlich die Haltung, dass der hohe Wert individueller Persönlichkeitsentfaltung und Bürgerfreiheit allenfalls dezente Hinweise und Vorschläge verträgt, nicht aber rigorose Einschränkungen oder gar strafbewehrte Zwänge. Der Italiener als solcher, möchte ich damit sagen, fährt entweder sehr gemächlich mit 36 bis 44 km/h, ohne sich durch die von ihm gezüchtete Schlange dahinter verunsichern zu lassen, auch wenn aus derselben zunehmend nervös-überlaute Hupsignale ertönen; oder er rast, als wäre er auf dem Rundkurs von Imola, schnuppert mit seinem Kühlergrill an deinem Auspuff und überholt dich in einer scharfen, unübersichtlichen Rechtskurve. Und beide, der Lahme wie der Wahnsinnige, sind fest überzeugt, den Tipp mit der moderaten Geschwindigkeit beherzigt zu haben. 

Aber es ist nicht dieser direkte Bezug auf den Straßenverkehr, der mich dabei so beschäftigt. Ich selbst fahre – Ausnahmen will ich nicht bestreiten – seit meiner Kontamination mit bestimmten grünen Ideen vor mehr als zwanzig Jahren nie schneller als 118 bis 124 km/h, ganz bewusst, nicht etwa, weil meine 17 Jahre alte Japankiste mehr nicht mehr schaffen würde. Nein, es ist der übertragene Sinn, der in dem Spruch steckt. Immer wieder stelle ich fest, dass ich – leider, leider –  das mir selbst verordnete Limit meines Lebens- und Arbeitstempos überschreite. Von wegen „sempre con calma“! Viel zu oft sage ich: „Ich will nur noch schnell…!“ – und viel zu selten fällt mir das dann selber auf. Immer noch, trotz der vielen guten Ratschläge von Freunden und entsprechender Ermahnungen von Ärzten nehme ich mir zu viel vor, als dass ich es in der vorgesehenen Zeit schaffen könnte. Das hat sicher damit zu tun, dass es mein langes Leben lang doch ganz gut so funktioniert hat; und vielleicht sind es auch noch ein paar restprotestantische Schlacken jener Überzeugung, alle möglichen Pflichten erfüllen zu müssen und sich bloß keinen sündenträchtigen Müßiggang leisten zu dürfen. Oder womöglich ist das auch eine Wirkung jener unser „modernes Leben“ prägenden Hektik, diese Vergötzung des Immer-schneller-immer-noch-mehr. Alles zusammen wahrscheinlich.

Und wenn! MODERARE LA VELOCITÀ: diese Devise will ich mir immer neu und fest vornehmen. In Italien wurde ja auch diese schöne Idee entwickelt mit dem genuin lateinischen Namen „Slow Food“. Klar: das ist gemeint als Kontrast zum freudlosen Burger-Fast-Food, trotzdem hätte mir so was wie „Mangia’ con calma“ besser gefallen. Und außerdem: schließlich lebe ich ja im Adagio und nicht etwa im „Prestissimo con brio“. 

Schon eigenartig, dass mich ein banales Verkehrsschild daran erinnern muss…

 

  1. Juni 2009

Notiz 52: Visionen u. a.

Vorgestern hatte ich eine Vision. Ich bin darüber furchtbar erschrocken, weil ich sofort an die ernste Warnung von Helmut Schmidt denken musste: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ Schon gestern also ging ich zum Arzt. „Was?!“ schrie der. „Wegen so was Lächerlichem kommen Sie zu mir? Sind Sie verrückt?“ Ich stotterte, unser kleinster Kanzler vor Gerhard Schröder hab doch… „Hören Sie auf!“ Der Arzt winkte ab und sprach jetzt sehr leise. „Sie haben doch mein Wartezimmer gesehen. Überfüllt ist untertrieben. Und alle da draußen haben das HSS. Das Helmut-Schmidt-Syndrom.“ Und er erläuterte es mir. 

Von den vielen bedeutenden Worten des Ex-Regierungschefs waren die allerbedeutendsten diese: ‚Etwas lernen, etwas leisten, gut verdienen, anständig und ehrlich seine Steuern bezahlen, ordentlich was auf die hohe Kante legen – und im Übrigen das alles nicht übertreiben, damit man genug Zeit und Muße hat, sich der weiß Gott angenehmen Seiten, die es ja auch noch gibt, des Lebens zu  erfreuen. Wenn das jedermann täte, wobei ich noch hinzufügen würde – außerdem noch SPD wählen und die Gewerkschaften stützen – dann wäre die Gesellschaft besser dran als sie bisher war.’

„Und heute, “ keuchte der Arzt, den Tränen nahe, „heute habe ich diese ganzen HSS-Patienten. Die junge Frau, die etwas lernen will, aber keinen Studienplatz kriegt. Der 40jährige Familienvater, der etwas leisten möchte, aber dessen Firma Pleite ging. Die Journalistin, die gern gut verdienen würde, aber ihre kritischen Themen nicht mehr los wird. Menschen, die anständig und ehrlich Steuern bezahlen wollen, aber nicht, um damit die Boni der blöden Bankenbosse zu garantieren. Der Harzt-IV-Opa, der ordentlich was auf die hohe Kante gelegt hat, und das jetzt aufbrauchen muss, ehe er ein bisschen Stütze bekommt. Und vor allem –  jetzt schrie der Doktor wieder – die vielen tausend SPD-Wähler, die täglich aufs Neue hören, sehen und lesen, wohin das geführt hat!!“

Ich fragte schüchtern, was er denn mit all seinen Patienten anstelle. „Ja, was wohl!“ knurrte er. „Sedativa. Wetten-dass-forte, zum Beispiel. Oder Tranquilizer: Sportschau regular dreimal täglich, WM, EM, Ski-Bob, Drachenflug-Junioren-Regionalmeisterschaften in Südostasien. Vor allem: Talkshows, mit Politikern möglichst, das wirkt besser als Valium. Natürlich, das weiß ich auch, das alles doktert an den Symptomen rum. Aber es weiß ja keiner, wie man die Ursachen kurieren könnte. Also, was sagen Sie nun, Sie… Sie… harmloser irrer Visionär?“

Ich sagte nichts mehr außer Danke und Ciao. Dann ging ich gesenkten Kopfes aus der Praxis, vorbei an den Scharen der Wartenden, die in die zehn aufgestellten Fernsehapparate glotzten oder in die Modezeitschriften oder die katholischen und evangelischen Gemeindeblätter oder die Sex-light-Heftchen.

Und ich ging nach Hause, ins Adagio. Als ich dort aus dem Fenster schaute, sah ich unseren kleinen, ganz weißen Kater Mikado in der Frühlingssonne auf dem frischgrünen Gras sitzen. Geduckt, angespannt, ein bisschen ratlos wie es schien, starrte er auf etwas, das er in seinem knapp einjährigen Leben noch nie gesehen hatte: zwei Meter von ihm entfernt stand ein prächtig-bunter, großer Fasan. Ebenfalls verunsichert, wie ich aus den gelegentlichen ruckartigen Bewegungen seines Halses und Kopfes schloss. Nach einigen Minuten öffnete ich das Fenster, um die Szene zu fotografieren – da flog der Fasan mit schwerem, elegantem Flügelschlag über die Hügel davon. Mikado war von neuem verdutzt. Er verstand immer noch nicht, was das gewesen war, rannte hin und her, starrte in Luft und kam schließlich ins Haus, um etwas zu fressen.

Ich dagegen verstand. Das war keine Vision gewesen, das war die Realität hier in den italienischen Marken. Und jetzt fiel mir auch nicht mehr Helmut Schmidt ein, schon gar nicht Helmut Kohl und auch nicht Angela Merkel oder – Herr im Himmel! – Guido Westerwelle. Mir fiel etwas ganz anderes ein: ein Song der Beatles, in dem mich beschrieben fühle: mit einem sardonischen Grinsen sitze (auch) ich hier in den marcheggianischen Hügeln, schaue dem Untergang der Sonne zu, und wenn ich Zeitungen lese oder auf dem Computer die immer neuen immer gleichen Krisen-Nachrichten, dann sehe ich diese unsere Welt taumeln – ich, der Narr, der „Fool on the Hill“.

6.3.09

 

Für alle, denen der Song „Fool on the Hill“ unbekannt oder nicht mehr geläufig ist – zu finden auf meiner Lieblingsscheibe der Beatles „Magical Mystery Tour“ – hier der Text:

 

Day after day,
Alone on a hill,
The man with the foolish grin is keeping perfectly still
But nobody wants to know him,
They can see that he’s just a fool,
And he never gives an answer,

But the fool on the hill,
Sees the sun going down,
And the eyes in his head,
See the world spinning ‚round.

Well on the way,
Head in a cloud,
The man of a 1000 voices talking perfectly loud
But nobody ever hears him,
Or the sound he appears to make,
And he never seems to notice,

But the fool on the hill,
Sees the sun going down,
And the eyes in his head,
See the world spinning ‚round.

And nobody seems to like him,
They can tell what he wants to do,
And he never shows his feelings,

But the fool on the hill,
Sees the sun going down,
And the eyes in his head,
See the world spinning ‚round.

Ooh, ooh,
Round and round and round.

And he never listens to them,
He knows that they’re the fools
They don’t like him,

The fool on the hill
Sees the sun going down,
And the eyes in his head,
See the world spinning ‚round.

Ooh,
Round and round and round

Notiz 51: Unvorhergesehenes

Nach fast 70 Jahren Leben in dieser Welt, die sich immer rapider in die Sphären der Unbegreiflichkeit ausdehnt (wer erklärt mir, nur zum Beispiel, den Erfolg eines Berlusconi wirklich?), ist es dennoch – paradox auch dies – nur noch selten, dass ich etwas Unvorhergesehenes erlebe. Irgendwie kommt es mir vor, als sei schon alles da gewesen. Bereits Kurt Tucholsky beklagte, es gebe keinen Neuschnee mehr. Umso wichtiger für mich also, es festzuhalten, wenn mir so etwas widerfährt; wie gerade eben diese Reise ins Unerwartete, So-nicht-Vorgestellte, als ich Mitte Januar 2009 ganz spontan einen Flug nach Deutschland buchte und das günstigste Angebot auswählte: von Ancona, also praktisch vor meiner Haustür, nach Düsseldorf. Doch, das gibt es!

Düsseldorf?! Ja. Der Billigflieger RyanAir (warum ich mit denen fliege, rechtfertige ich ein andermal) nennt das Flugziel so: Düsseldorf (Weeze). Es hat deswegen Prozesse gegeben, eigentlich wollte Düsseldorf  das gern verhindern. Aber in unserer so wahnsinnigen freien Marktwirtschaft hat (auch) das einfach nicht geklappt. Und von meinem Wohnort Corinaldo nach Köln ist dies die preiswerteste und auch noch kürzeste Verbindung: ziemlich genau sechs Stunden von Haus zu Haus.

Zunächst geht auch alles seinen ganz normalen Gang. Ancona-Falconara ist einer von diesen noch kleinen Provinzflughäfen mit wenigen Starts und Landungen am Tag, fast gemütlich, frei von Hektik, keine Schlangen am Check-in und die paar Meter zum Flugzeug (der lässige Vielreisende sagt: Flieger) geht man natürlich zu Fuß. So wie das in Forlì (nach RyanAir „Bologna-Forlì“) auch mal war, vor wenigen Jahren noch. Der große Jet kaum halb voll, eine multinationale Reisegesellschaft mit Schiebermützen, Kopftüchern, Turbanen und einem (meinem) schwarzen Hut; der Start mit fünfzehn Minuten Verspätung, ein ruhiger Flug durch die schwarze Nacht übers Meer und die Alpen, die Landung zehn Minuten früher als im Plan.

Aber dann: AIRPORT WEEZE. Airport! Gut: die Landebahn ist lang genug und geteert, das ist richtig und natürlich auch notwendig. Aber dann… Auch hier wie zu erwarten der Fußmarsch zur Halle. Ich habe den vorläufig letzten Tag dieser sensationellen Kälteperiode in Deutschland erwischt. Das wäre früher ein Grund gewesen für ein paar Bemerkungen wie „verdammt kalt, heute“ oder „wie schön, mal wieder richtig Winter“. Heute erhitzen sich die Wetterfrösche aller Sender, beschwören das Gigantische des Ereignisses, es gibt Sondersendungen auch bei ARD („Brennpunkt“, wie passend) und ZDF zur Erläuterung der globalen wie lokalen Bedeutung. Für mich bedeutet das: auf dem Treppchen gleich oben an der Flugzeugtür jagt es mir fast den Hut weg, so scharf bläst der eisige Wind. Also möglichst rasch ins Warme! Nur: wo geht es lang? Meine Mitfrierenden rätseln wie ich. Schließlich entdecken wir in der Finsternis, fahl beleuchtet vom fernen Hallenlicht, eine schlotternde Stewardess, sie winkt uns verzweifelt zu sich und dann weiter durch ein Spalier aus Sperrgittern (gab es hier mal Großdemos?) an dem endlosen Gebäude entlang zum hintersten Eingang. Drinnen quietscht rhythmisch ein einsames Gepäckförderband. Und, oh Sensation!, unsere Koffer sind bereits darauf! Schnell also durch eine ganz normale Glastür, also nicht diese grün beschrifteten Portale für zollfreies Passieren oder drohend rot bemalt für kontrollpflichtige Ausgänge, hinein in die riesige Halle, einen Kilometer lang, einen halben breit und achtzig Meter hoch (schätze ich). Außer uns Passagieren noch vielleicht elf Figuren, es ist ja schon spät: kurz nach acht Uhr abends, wahrscheinlich wird hier gleich abgeschlossen und das Licht ausgemacht. Die zwei, drei Schalter für Mietwagen sind schon verrammelt. Die Trostlosigkeit der Anlage wird auch durch einen einzigen, hoch oben angebrachten, bleichen Sonnenschirm nicht abgemildert.

Immerhin: ein runder Holzkasten vor dem großen (handgemalten?) Schild INFORMATION ist noch besetzt. Davor steht ein kleiner Mann, mir scheint: ein Italiener, dahinter thront eine gerade konfirmierte, rosige Jungbürgerin aus Weeze (oder Wemb? Verzeihung, so heißen halt die Orte hier!), hoch gesteckte Haare, höchst nervös, und sie erklärt mit ihren fünfzehn Worten Englisch, wie man nach Bottrop kommt: „Bus… okay?… to stäischen… dann träin, okay… to Düüüsburich, zentrelstäischen… tchäinch tu littel träin bis …“ Der kleine Italiener strahlt, als dürfe er nach Napoli und hinter dem Schalter stünde Claudia Cardinale. Die wiederum strahlt ebenfalls, nämlich als ich sie jetzt auf deutsch frage, wo es zum Bus nach Köln geht. „Ganz einfach! Da die Halle lang, links, bis zum letzten Ausgang, da raus und nur noch über die Straße!“ Stimmt auch, die Auskunft, fast jedenfalls, das letzte Glastor ist „wegen Defekt geschlossen“, also alles zurück und direkt gegenüber der INFORMATION hinaus. 

Immer noch Eiswind, am Boden gefrorener Schnee und Eisreste. Der Bus dann dagegen überheizt. Als er um kurz nach halb neun losfährt mit uns sechs Fahrgästen an Bord, fühle ich mich fast wie in Thailand, Nord-Thailand. An ein paar Baracken und kasernenartigen Häusern vorbei (der Airport war mal, wie zum Beispiel auch Frankfurt-Hahn, ein Militärflughafen, hier einer von den Briten) geht die Fahrt in völliger Nachtschwärze auf einer Schlaglochstraße ins Nirwana, alle zehn Minuten kommt mal ein Auto entgegen, eine plötzlich auftauchende Ampel wirkt völlig deplatziert.

Hier drinnen aber keine Langeweile. Vier Reihen hinter mir sitzt ein vielleicht 35 Jahre alter Handyterrorist. Er wird beim ersten Stopp, Hauptbahnhof Düsseldorf, aussteigen, das erklärt er, bleibend laut und fröhlich, schon der ersten Gesprächspartnerin. Die er… äh, also ich weiß nicht, ich meine, so auf ein Bierchen oder so? gern sehen würde. Ach so… sie hat Probe. Versteht er, na klar doch. Morgen auch? Äh, ob er da nicht mal zukucken… er würde zu gerne mal… ach so, geht nicht, überhaupt nicht – schade, echt schade. Aber… gut, ja, dann probiert er es… nein er erwartet ihren Anruf, gerne! Nur: am Freitag fliegt er schon wieder zurück… ciao! Ciao!

Ruhe und Frieden.

Für drei Minuten. Dann der nächste am Apparat, ein Kumpel. Der Fröhliche hat auch noch Humor. „Wo hab ich dich denn rausgeholt?“ dröhnt er raumfüllend und selberlautlachend und muss das vier Mal sagen, ehe es der Kumpel kapiert. Der aber, leider leider, denn ebenfalls keine Zeit hat heute Abend.

Das nächste Gespräch von hinten, nach weiteren fünf Minuten, wird von vorne überlagert durch die Stimme der Nachrichtensprecherin aus dem Bus-Radio. Ich werde schläfrig. Und als die Bundeskanzlerin Merkel im Interview ihre großartigen Konjunkturankurbelungsmaßnahmen erläutert, versinke ich erneut in diesem Nord-Thailand-Gefühl: ich verstehe kein Wort von dem, was sie daherblecht.

Ich schlafe ein.

Und wache erst wieder auf, als der Bus am Hauptbahnhof Köln ankommt, kurz nach zehn Uhr schon. Und ich komme mir vor, angesichts des Gewusels und Geflimmeres und Gelärmes da, als wäre ich im Big Apple gelandet. Aber – im Vergleich zu Airport Weeze und dessen Umgebung würde sogar Stuttgart einem vorkommen wie New York, denke ich. Und auch das gehört zu diesem eingangs beschriebenen, völlig neuen Unvorhergesehenen.

Neuschnee allerdings gibt es auch hier in Köln nicht, nicht heute Nacht und auch nicht in den nächsten Tagen. Und Weeze, keine Frage, wird in wenigen Jahren ein Weltflughafen sein, so normal und frequentiert wie Münster-Osnabrück, Kassel oder Friedrichshafen.

16. Januar 2009

Notiz 50: Caprese Michelangelo

Italien sei – so habe ich gerade in einem ehrwürdigen „Reiseführer für Autofahrer“ aus den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gelesen – wie kein anderes Land am Mittelmeer eine wahre Fundgrube für Touristen; immer sei noch etwas zu entdecken, auch wenn man glaube, schon alles gesehen zu haben. Für mich, das räume ich ohne Zögern ein, trifft das zu. Vor 53 Jahren, am 18. August 1955, habe ich auf der Piazza della Signoria in Florenz den David des Michelangelo abgezeichnet, also von der Kopie, die dort steht, das Original steht „bekanntlich“ in der Galleria dell’Academia der Stadt. Das Blatt habe ich heute noch, es ziert zusammen mit anderen Zeichnungen das Fahrtenbuch unserer Jugendgruppe aus Heidelberg, mit der ich – auf Fahrrädern notabene! – in dieser bis heute für mich zweitschönsten Stadt (nach Paris) angekommen war. Und heute, am 5. Oktober 2008, stehe ich vor dem Kopf dieser einmaligen Statue, also wiederum einer Kopie natürlich, in einem uralten Gebäude aus Natursteinen, irgendwo im Apennin zwischen Umbrien, Toskana und den Marken, aber eher zufällig in dem Haus, in dem 1475 der Mann geboren wurde, der diesen David geschaffen hat: Michelangelo Buonarotti.

Zufall deshalb, weil ein – auf dem Weg ins Badezimmer meiner Unterkunft in Castiglion Fibocchi – verstauchter linker Fuß, die daraus folgenden Schmerzen beim Gehen und die Empfehlung des Pronto-Soccorso-Dottore in Arezzo einen geplanten Besuch (mit der Bahn) im nur gut fünfzig Kilometer entfernten Florenz verhindert hatten. Eine Fahrt im Auto nach Caprese Michelangelo aber, etwa 45 km entfernt, sollte doch ein adäquates Sonntagsausflugssurrogat bilden, oder etwa nicht?

Es wurde viel mehr: schon die Fahrt ein Traum, zwischen Quarata und La Chiassa war ich mir der Strecke nicht mehr so ganz sicher, fragte eine Autofahrerin, vielleicht 50 Jahre alt, klein, mit Brille und wilder Frisur, erhielt nach kurzem Überlegen und in ungewöhnlich fließendem Englisch den Rat: „Come behind me!“ Nach ein paar Kilometern ging es durch das Dorf Chiassa, dahinter wieder der Rat: „Always here in this direction to Anghiari, and then to the left, follow the signs!“ Die Straße, schmal, aber sehr gut ausgebaut – das hatte der Autor des eingangs erwähnten Reiseführers nicht oft genug betonen können, welch phantastischen Autostraßenbauer die Italiener seien – über zahlreiche Serpentinen hoch zu einem Pass, dessen Namen ich vergessen habe, war ja auch bloß etwas mehr als 500 Meter über dem Meeresspiegel; eine wunderschöne Landschaft, bereits mit beginnender Herbstfärbung der Bäume, darüber eine tiefblauer Himmel mit einer großen Herde weit verstreuter Schäfchenwolken.

Dann schließlich die ersten Häuser von Caprese Michelangelo. Ich denke: das könnte jetzt auch… naja: Geislingen an der Steige sein, oder Michelstadt im Odenwald oder Westrhauderfehn bei Wilhelmshaven. Langweilige Ein- und Mehrfamilienhäuser, ein Fußballplatz, zwei Lagerhallen, drei Ampeln. Und hier soll der berühmte Maler, Bildhauer, Architekt und Poet geboren sein, ein italienischer Prospekt hat ihn sogar, nach kurzem Zögern und ein bisschen verlegen, den „wahrscheinlich größte Künstler der Welt“ genannt?

Doch mein Weg geht noch ein bisschen weiter, immer noch ein paar Kilometer, und schließlich steil bergauf, in einer Einbahnstraße an einer Bergkuppe entlang, links Parkplatz an Parkplatz, heute alle frei, es ist ja Sonntag, später Vormittag (Gottesdienststunde!) und Oktober. Dann geht es nur noch zu Fuß weiter, zwei Biegungen noch, dann bin ich da: im Borgo.

Auch hier kein Mensch, außer dem überaus netten, strahlenden, jungen Mann an der Kasse. Eintritt – wegen der Sperrung eines Teils der Ausstellung in der Burg auf Grund unumgänglicher Renovierungen – nur 2 Euro. Und es gibt dazu, wir haben schließlich 2008, eine Art portables Telefon, mit einer elaborierten Führung durch das Anwesen, auf Deutsch gesprochen. Sehr informativ, wie gesagt, diese Führung, ebenso wie die Ausstellung selbst hier, in the middle of nowhere. Oder besser: in Italien, wo man den Eindruck bekommen kann, jeder Quadratmeter sei angefüllt mit Geschichte und Geschichten, politischen, künstlerischen, religiösen. Was so natürlich nicht ganz stimmt – aber hier stehe ich und sehe und höre, was dieser Mann geschaffen hat, erlebt, bewirkt und angestoßen und was heute noch lebendig ist, illustriert in diesem Haus hier mit Kopien von Arbeiten (Geschenke von Orten, die die Originale besitzen, von den Uffizien über die Vatikansammlungen bis zum Louvre), und mit Gemälden, die Stationen seines Lebens festhalten.

Gegen ein Uhr verlasse ich diesen Ort wieder, mir entgegen kommen mehr und mehr Autos mit Menschen, die nun ihrerseits durch die Anlage ziehen werden; fast nur Italiener. Sie wissen offenbar oder ahnen von dem Wert, der hier angesammelt ist beziehungsweise über die Welt verstreut auch heute noch existiert, auch ohne an irgendeiner der Weltbörsen notiert zu sein (welche derzeit ohnehin mal wieder Katastrophenkurs fahren, obwohl doch nach der Befreiung vom infernalischen Sozialismusversuch dem alles regelnden Markt nichts mehr im Weg herumsteht). 

Ich fahre zurück in dieses von Patina geadelte Haus, diese toskanische Villa, in der ich zu Gast bin, etwa zehn Kilometer von Arezzo entfernt. Und die zwölf Tage, die ich hier Urlaub machen, mich erholen will, die könnte ich genau so gut füllen, jeden Tag, mit Besichtigungen von Museen, Ausstellungen, Anlagen, Messen (etwa die Antiquitäten-Messe in Arezzo, jedes erste Wochenende im Monat auf der Piazza Grande), mit Diskussionsveranstaltungen oder Konzerten, es ist unglaublich, was hier alles angeboten wird –

La vita è bella. Natürlich weiß ich um die Doppel- oder sogar Mehrfachbedeutung dieses Filmtitels von Roberto Benigni (welcher übrigens gerade als einer von vielen, etwa auch dem aktuellen Papst Benedikt 16) die Bibel rezitiert, eine Woche nonstop, übertragen im Fernsehen. Und ich weiß inzwischen auch, dass wichtige Teile dieses Films auf eben dieser Piazza Grande von Arezzo gedreht wurden. Ob man das in ein paar Jahrhunderten noch wissen wird, noch würdigen? Da in der „Fundgrube Italien“ jedoch nicht nur die wirklichen Wertstücke zu entdecken sein werden, sondern – wie bisher ja auch schon – solche Unikate wie Nero, die uneheliche Papsttochter Lucrezia Borgia, die Erfindung und liebevolle Ausgestaltung der Inquisition und schließlich auch Mussolini, wird auf jeden Fall für alle Italienliebhaber festgehalten sein, dass zu Anfang dieses 21. Jahrhunderts der „wahrscheinlich komischste, bislang jedenfalls reichste, dummdreisteste und für die Demokratie gefährlichste Regierungschef“ (kein Prospekt, sondern meine Formulierung) in Rom an der Macht war – il Cavaliere, Silvio Berlusconi. 

Was mich tröstet: dessen Geburtshaus, irgendwo in Mailand, wird – wenn es dann überhaupt noch steht – nie das Ziel von auch nur einem ehrfürchtigen Besucher sein (und auch von keiner Besucherin…). Wohl aber, immer noch, die Casa Natale dell’Artista Michelangelo Buonarotti.

8.Oktober 2008

Notiz 49: Nachsaison

Der Mann erinnert mich an Anthony Quinn im Film „Alexis Sorbas“. Er ist damit beschäftigt, die blaurot gestreiften Sonnenschirme und Liegen seines „Bagno“ mit einem kräftigen Wasserstrahl aus dem gelben Schlauch sauber zu spritzen und dann ordentlich in Reih und Glied zum Trocknen aufzustellen, was in der – Mitte September – immer noch heißen Sonne nicht lange dauern wird. Das Bild ist eines der Signale dafür, dass die Saison 2008 vorüber ist, hier an der italienischen Adriaküste bei Senigallia. Nur noch wenige Menschen am Strand, auf den Badetüchern im Sand und im Meer. Oder – wie wir vier – auf der Terrasse des Ristorante LUNA ROSSA zum Mittagsimbiss mit Chitarrine con Gamberetti e Curry, Bufala e Melone, Insalata Mista, Risotto Pescatore, Weißwein, Wasser, caffè – ein Sommerabschlussessen, ehe wir uns zur Siesta auf dem warmen Sand ablegen.

Die Nachsaison hat begonnen. Statt der knapp 32 Grad heute, am Donnerstag, wird es am kommenden Montag, nach einem gewalttätigen Gewitter mit endlosem Sintflutregen, dem ersten seit vielen Wochen, einen Temperatursturz geben auf fröstelige 15 Grad. Ich habe immer gesagt, dass ich die Nachsaison liebe, mehr als alle anderen Jahreszeiten. Wir waren oft in diesen Wochen unterwegs, am Meer in Italien, Frankreich, Spanien, Griechenland. An den von Touristenmassen befreiten Stränden, in Restaurants, in denen Ober und Bedienungen trotz der unübersehbaren Erschöpfung nach dem Ansturm in den Sommermonaten wieder Zeit haben für die Gäste, plaudern, scherzen, geduldig ausführliche Empfehlungen geben und nicht mehr durch das ganze Lokal hetzen müssen, weil ja nur noch wenige Tische besetzt sind. Und die Hotels, in denen man sich jetzt die Zimmer ankucken kann, auswählen und den Preis herunterhandeln, ohne Aufschlag für das Frühstück, serviert auf dem eigenen Balkon mit Meerblick.

Aber nicht nur das. Ich habe immer auch gern dazu gesagt, dass mir diese Jahreszeit so gefalle, weil sie so ehrlich sei: die unübersehbare Abschiedsstimmung, die dezenten Hinweise auf die Vergänglichkeit.

Und da ist in diesem Spätsommer 2008, nach einer für uns schönen, aber auch anstrengenden Saison als Gastgeber im Adagio, etwas hinzugekommen zu dieser meiner seit langem gepflegten Einstellung. Ohne vorher erkennbaren Grund ist mir in einem ganz alltäglichen Gespräch – also nicht in einer unangenehmen Diskussion, gar einem belastenden Streit – das Thema entfallen. Einfach weg. Wovon war doch gerade die Rede? Von… von… – äh…

Es dauert nur kurz, nach dreißig, vierzig Sekunden ist der Blackout vorbei. Das Thema ist wieder da – aber auch ein Schreck. Und die Erinnerung, dass mir das Gleiche schon einmal passiert ist, vor ein paar Wochen, einem Monat oder so, in einem Telefonat mit einem Freund; und da hat das länger gedauert, eine oder zwei Minuten vielleicht.

Grund genug, einer Untersuchung im Pronto Soccorso, der Notfallstation des Krankenhauses in Senigallia, zuzustimmen. Das zieht sich hin, andere Fälle sind natürlich dringender, Verkehrsunfälle zum Beispiel. Zeit genug also beim Warten zum Nachdenken, zu Beobachtungen. Etwa die Zufriedenheit mit dem Standard, den dieser Pronto Soccorso hat, die modernen, gepflegten Räume, und auch die Qualität der dann folgenden Untersuchungen, bei drei Ärzten, mit Zeit für mich, erkennbarer Professionalität und modernsten Geräten, zum Beispiel auch dem TAC, dem Gerät zur Computertomographie des Kopfbereiches. Ein EEG soll noch gemacht werden, in der kommenden Woche, höchstvorsorglich dann auch noch eine Magnetresonanz-tomographie.

Alles bisher, zum Glück, ohne erschreckenden Befund. Eine gewisse Erschöpfung sei bemerkbar. Kein Grund zu panikartiger Reaktion. Ich solle mich schonen, ausruhen, erholen, kürzer treten; von meiner in Kürze geplanten Flugreise in die USA rät außer dem Hausarzt auch der Neurologe ab, sehr entschieden. All das führt dazu, dass mir nach ein paar Tagen dann dieser Gedanke kommt: da hat sich wohl die Nachsaison meines Lebens bemerkbar gemacht. Auch dies kein Einbruch, kein Grund zur Depression. Dennoch: ein Hinweis auf mein Alter, der Rat meines Körpers, ehrlich zu mir selbst zu sein, einen Gang zurückzuschalten, nicht mehr wie bisher ständig Höchstgeschwindigkeit zu fahren, weder beim Arbeiten noch beim Feiern. 

Ich habe, nach einem ein bisschen wirren und nicht so bewusst verbrachten Lebensfrühling einen langen, langen Sommer gehabt, mit intensiv genossenen heißen Phasen, einer Fülle traumhafter Erlebnisse, in meinen Jobs, im jeweiligen Alltag in den verschiedenen Städten, auf meinen zahllosen kurzen oder ausgedehnteren Reisen, mit Freude an Erfolgen und manchmal auch dem Stolz darauf; auch mit Gewittern natürlich, Hagelschlägen, Temperaturstürzen, Kälteperioden, aber all das stets nur – vergleichsweise – kurz und, letzten Endes, nie wirklich schlimm.

Und jetzt hat also die Nachsaison begonnen, auch die meines Lebens. Kein Fall von Tragik. Es gibt noch genug zu erleben und genießen, nichts deutet auf ein rasches Ende hin. Diese Nachsaison, so denke ich, so hoffe ich, wird noch Jahre andauern, mit Vorsaisonerwartungen nach herben Wintern, mit prallen lebensfrohen, heißen Sommern und dem erneuten Genuss der jeweils folgenden Nachsaison, so wie eben jetzt in diesem Herbst 2008.

Eines allerdings weiß ich auch: einen neuen Frühling wird es zwar im nächsten Jahr geben, im übernächsten, wer weiß wie oft noch. Einen neuen Lebensfrühling für mich aber nicht.

  1. September 2008