ITA ING DEU

Notiz 54: LUI. E l’altro.

„Dipende da LUI“, seufzt Giordano, der bullige Chef der Baufirma, wenn wir ihn schon wieder fragen, ob er denn rechtzeitig vor der Saison fertig wird mit den Bauarbeiten am Haus, die ständig unsere Ohren und Nasen quälen. „Das hängt von IHM ab!“ Sein Blick schwenkt dabei nach oben, kein Zweifel, wer mit LUI gemeint ist; leichte Zweifel allenfalls an der Ernsthaftigkeit seiner Aussage, dass da oben hinter den schwarzgrauen Regenwolken einer sitze (stehe? schwebe?), der es allein nach seinem Gusto ewig weiter so gießen lässt, dass an ein Arbeiten im Freien nicht zu denken ist.

Dennoch: LUI ist hier in Italien viel gegenwärtiger als in der BRD, und auch viel personaler. Das habe ich schon vor Jahrzehnten gelernt beim Lesen von Guareschis „Don Camillo und Peppone“, wo LUI in der Figur des Christus am Kreuz ständig präsent ist als Gesprächspartner und Entscheidungshelfer des oftmals überforderten Gemeindepfarrers. Für einen Transprotestanten wie mich – als „evangelisch“ habe ich mich ohne unangenehme Gefühle nur in meinen Kinder-Glaubens-Jahren bezeichnen können – ist der hierzulande noch heute lebendige Katholizismus voll von immer neuen Überraschungen (und Verirrungen), kleineren wie größeren. Beispiel für die größeren: die Institution des „Heiligen Stuhles“. Schon mal diese Bezeichnung! Unter leicht veränderten Bedingungen wäre, davon bin ich überzeugt, bestimmt auch ein „Heiliges Sofa“ entstanden. Und dann: die Be-sitzer dieses Möbels – im Lauf der zweitausendjährigen Geschichte reicht die Galerie vom frommen, gütigen Hirten über den intellektuellen Staatsmann bis hin zum widerlichen Wüstling. Als Papst aber genossen sie alle und immer den Respekt der Italiener und Italienerinnen. So wie auch jetzt der Deutsche Ratzinger. Und schließlich: zum Heiligen Vater wird einer (und natürlich niemals eine…) in einem Verfahren, das in dieser Welt des 21. Jahrhunderts einmalig ist: absolut undemokratisch, aber weltweit kritiklos akzeptiert, auch von jenen, die sonst bereits kleinere, erträgliche Abweichungen vom idealdemokratischen Tugendpfad lautstark anklagen.

Als Beispiel für die kleineren Verirrungen habe ich vor Augen jene in sechs, acht Reihen auf ein Tischchen montierten Opferkerzen aus Plexiglas, auch in ehrwürdig-eindrucksvollen Gotteshäusern wie etwa in Loreto, die nach Einwurf einer Münze in den angeschlossenen Automaten kürzer oder länger brennen, je nach dem Wert des Geldstücks eben und – vermute ich mal – eben auch nach der selbsteingeschätzten Schwere der begangenen Sünde.

LUI, will ich sagen, ist in Italien also auch heute noch allgegenwärtig. Es bekreuzigen sich unablässig sowohl die Witwe am Grab des Gatten, der eingewechselte Mittelstürmer auf dem Rasen von San Siro als auch die Passanten, wenn ein Leichenwagen mit Sarg oder ein Mönch auf dem Fahrrad vorbeirollen. IHN besuchen allsonntäglich in den Dorfkirchen, Kapellen, Domen und Kathedralen auch die überzeugtesten Kommunisten. 

Einmalig!

Wirklich? Nein! LUI ist nicht einmalig! Nicht mehr. In den letzten Jahren hat er Konkurrenz bekommen. Da ist „L’altro“. Der andere. Auch ein „er“. Mit ganz vielen ähnlichen oder sogar gleichen Selbsteinschätzungen wie LUI, aber auch mit von anderen verliehenen Zuschreibungen wie „allmächtig“, „gütig“, „gerecht“, „lieb“, „klug“, „erfolgreich“ und „listig“. Auch dieser andere schützt jene, die ihn anbeten. Er hilft dem, der ihn auf Knien darum bittet. Und er verfolgt alle, die ihm nicht die gebührende Ehre erweisen wollen. L’altro – mitdenkende LeserInnen wissen längst, dass ich von Silvio Berlusconi rede – hat sich bekanntlich schon vor längerer Zeit  mit Napoleon auf eine Stufe gestellt, und nun hat er offenbar viel von LUI gelernt und ist sogar dabei, ihn zu überrunden. Wofür LUI zwei Jahrtausende benötigte, das hat L’altro in ein paar Jahrzehnten geschafft: seine elektronischen Prediger und Verkünder lärmen in jedem italienischen Haus, meist mehrfach in den verschiedensten Räumen, und in allen Restaurants dröhnen sie von morgens bis abends in einer Lautstärke, dass im Vergleich dazu die Toccata von Bach, auf einer Orgel im Kölner Dom gespielt, klingt wie das sanfte Gemurmel eines kleinen Gebirgsbachs.

Und auch die Botschaften von LUI und L’altro gleichen sich: ich bin der Herr, dein Gott, du sollst keine anderen Götter neben mir haben, meine Lehren sind die allein selig machenden, wer mir nachfolgt, wird sitzen zu meiner Rechten, wer aber meiner spottet, den werde ich verfolgen bis ins dritte und vierte Glied.

Lange also kann es nicht mehr dauern, denke ich, dann wird Giordano auf unsere eingangs zitierte Frage antworten: „Dipende dal’altro!“ Weil der bald wohl auch das Wetter kontrollieren wird, in Italien.

  1. August 2009