ITA ING DEU

Notiz 61: Fragen gibt es…

Seit Jahren, sogar seit Jahrzehnten habe ich mir diese Frage nicht mehr gestellt, die mir heute, an diesem August-Sonntag-Abend, kurz nach neun Uhr, ins Hirn schoss: Darf man beim Essen lesen?

Nein! Ganz klar und eindeutig die Antwort meiner Mutter seinerzeit. Natürlich nicht! Beim Essen konzentriert man sich auf das, was man verzehrt. Man würdigt etwa den Kopfsalat. Der noch eine Stunde vorher im Garten draußen stand, also frisch ist wie es frischer nicht geht, mit den ganzen Vitaminen noch drin! Ein Geschenk des Himmels! Und man genießt andächtig das Schweineschnitzel. Nein, Unsinn, natürlich nicht auch frisch aus dem Garten! Aber doch ebenfalls ein Geschenk, nach diesen schrecklichen Zeiten des 2. Weltkrieges, wo die Menschen, auch die deutschen Menschen, irgendwann gar nichts mehr zu essen hatten.
Wie ging es uns dann doch gut, in diesen Jahren des Wiederaufbaus! Dankbar mussten wir sein! Und würdigen mussten wir, was uns da geschenkt wurde (von wem auch immer), Kopfsalat voller Vitamine, Fleisch, schon bald jeden Tag, nicht mehr nur als große Ausnahme am Sonntag! Da hätte man sich doch versündigt, wenn man da beim Essen gelesen hätte!

Uns Nachkriegsgenerationsexemplaren war dies, leider, nicht begreifbar zu machen. Für uns war dieses Leben im neuen Deutschland (was mit dem NEUEN DEUTSCHLAND natürlich überhaupt gar nichts gemeinsam hatte!) ganz normal; so normal, wie der Alltag im Nationalsozialismus für meine Eltern gewesen war; und wie heute die Welt des globalisierten Turbokapitalismus für meine Kinder ist.

Und so war es für mich sehr früh ganz klar, dass ich beim Essen las. Wenn ich alleine aß, natürlich. Unvorstellbar, dass ich etwa beim Kerzenlichtdinner zu zweit neue Enthüllungen über Franz Josef Strauß im SPIEGEL gelesen hätte! Aber ich habe im Lauf meines nun doch schon ganz schön langen Lebens so oft allein gegessen, dass ich mir die Zeitverschwendung nicht verziehen hätte, die der Verzicht auf die mögliche gleichzeitige Wissensvermehrung durch eine Lektüre bedeutete. Außerdem: wie oft geschieht es denn, dass wir die uns vorgesetzten Köstlichkeiten einer vorzüglichen Mahlzeit nicht würdigen, indem wir uns mit einem Kreis von Freunden oder auch nur, aber mindestens ebenso intensiv, mit einer unvergleichlichen Begleiterin beschäftigen?! Ich möchte wirklich nicht wissen, wie viele Tausende von Vitaminen ich an der Ausübung ihrer segensreichen Aktivitäten gehindert habe, weil ich mich bewusst und gewollt abgelenkt habe durch intensive Gespräche. 

Oder eben durch Lesen! Wobei es übrigens ziemlich gleichgültig ist, was man liest. Bei mir ist es zumeist eine Zeitung. Oder ein Magazin. Eine Zeitschrift. Für ein Buch hätte ich kaum die richtige und wichtige Konzentration und Ruhe, ich wäre zwischen zwei Genüssen hin- und hergerissen: ein leckeres Saltimbocca mit Risotto Milanese und gleichzeitig die Blechtrommel zu genießen, das fiele mir sehr schwer. Bei Zeitungen und dergl. hält sich ja der Lesegenuss in Grenzen, angesichts der ganzen täglich neuen (oder auch immer gleichen) Katastrophen in Politik, Wirtschaft und der von uns Menschen so geschundenen Natur.

Da schießt mir also jetzt, nach so langer Zeit, diese Frage ins Hirn: ob es womöglich doch Gründe geben könnte dafür, beim Essen nicht zu lesen. Ich sitze hier, alleine, am Sonntagabend, in meinem Stammrestaurant I TIGLI in Corinaldo. Gut: bei dem ziemlich schummrigen Licht hier auf der Terrasse ist das Lesen für einen Grauer-Star-Verdächtigen wie mich ohnehin problematisch. Interessanter aber: ich lege die mitgebrachten „Blätter für deutsche und internationale Politik“ ganz zwanglos beiseite und konzentriere mich auf den gemischten Salat und den Teller mit Fritto Misto senza Spine. Und auf das Viertel Weißwein, offen, schön kühl. Und habe irgendwie auf einmal das Gefühl, dass ich genieße. Das Essen. Ohne zu lesen.

Meine Mutter fände das gut. Auch wenn es völlig andere Gründe sind, warum ich mich so verhalte.

Fragen gibt es… Ich weiß, ich weiß: es gibt wichtigere Fragen, und ich werde mir solche alsbald auch wieder stellen. Selbst wenn ich leider keine so schönen Antworten darauf weiß wie hier…

23.08.2010