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Notiz 55: Zellen-Phantasien

Wie schwer es ist, in einem Hotel ein halbwegs passables Einzelzimmer zu finden, weiß ich schon seit Jahrzehnten. Jedenfalls zu einem Preis, den zu zahlen ich (oder früher etwa der Veranstalter eines meiner Auftritte) bereit war. Kein großes Kunststück ist es andererseits, mit dem Jahreseinkommen jener besseren Menschen von Ackermann bis Zumwinkel einen Raum als Übernachtungsstätte zu mieten, der die Abmessungen eines Konzertsaals in einer deutschen Kleinstadt aufweist. Wobei diese Dimension dann wieder ganz oft – wie ich höre – dazu führt, dass die niederziehende Verlorenheit des Hotelgastes darin durch die selbstlose Aufnahme einer weiteren Person – in der überwiegenden Zahl der Fälle weiblichen Geschlechts und weder verwandt noch verschwägert – abgewendet werden muss. Dass dies nicht so breit durch die Presse geht wie jüngst bei Berlussolinis vergleichbaren Praktiken liegt an der Verschiedenheit sowohl der verwickelten Personen als auch der deutschen und italienischen Medien. 

Aber zurück zur Fahndung nach einem Einzelzimmer. Ein solches zu finden ist auch jetzt noch ein Problem, im Jahr 2009 und an der italienischen Adriaküste, wo ich ein paar Tage Auszeit nehmen will vom Paradies Adagio. Meine Unlust, im Internet etwas zu suchen und zu buchen, führt erwartungsgemäß dazu, dass ich mir eine ganze Reihe von Absagen an klimatisierten Rezeptionen abholen darf, mit Bedauern beiderseits; ehe ich, ebenfalls erfahrungsgemäß, ein Angebot annehme, das mir im HOTEL TRITONE in Porto San Giorgio gemacht wird. Das Zimmer ist halbwegs passabel, den Preis, inklusive Frühstück (jaja, ich weiß, ich weiß: italienisch…) bin ich bereit zu zahlen. Schließlich halte ich mich da ja auch nicht so oft auf, das Meer ist drei Minuten entfernt, und es gibt außer zahlreichen Restaurants und Cafes in der Nähe auch noch – wie ich am nächsten Tag entdecke – einen durchaus geräumigen Swimmingpool unter üppigen rosablühenden Oleanderbäumen und Palmen und mit nur einer Handvoll überraschend stillen italienischen Gästen.

Und dann – am frühen Abend – tritt vor meine geistigen Augen ein Bild, es verdrängt den aktuell genossenen Blick von dem winzigen Balkon auf die windgepeitschte, wenn auch sonnenüberflutete Adria. Ich sehe dieses mein Einzelzimmer hier im dritten Stock des TRITONE plötzlich als Zelle. Als Einzelzelle. So eine, wie ich sie damals als Rechtsreferendar in der Ausbildung hin zum vollen Juristen besichtigen durfte, in München-Stadelheim. Nicht nur die Abmessungen, auch die Ausstattung: der Kleiderschrank, Arte Povera in weißem Schleiflack, mit aufgeleimtem Spiegel, aus der gleichen Kollektion ein winziges Tischchen, ein Stuhl und die Pritsche, sorry: das Bett, 90 mal 1,90. Aber: ein Farbfernseher! Der allerdings könnte ja auch als Folterinstrument dienen, für ein Nonsense-Boarding mit den hierzulande gezeigten Programmen. Die „Nasszelle“ in meiner Zelle allerdings wirklich schon ein Quasi-Luxus, mit Dusche und WC (statt Kübel). Und – eine erstmals gesehene, großartige Erfindung für so kleine Räume: der Deckel der Toilette ist als Schale geformt, mit einem kleinen Ablaufloch – wenn man ihn zuklappt, wird aus dem Teil ein Bidet… Aber! – rufe ich mich zur Ordnung – aber der Blick aufs Meer! Naja, den haben sie in Guantánamo auch…

Plötzlicher Paradigmenwechsel: die Zelle nicht als Raum im Knast, sondern – ich erinnere mich gut (und gerne) an meine Tage im Jahr 2002 in der Benediktiner-Abtei Grüssau – im Kloster auf Zeit. Auch da die Übereinstimmung, in den Abmessungen wie in der Einrichtung, Pritsche, Schrank. Tischchen, Stuhl. Allerdings kein Fernsehapparat. Klar: das wäre in diesem Setting – der teuflische Versucher! Angesichts dessen, was heute selbst in normalen Familienprogrammen an Nacktem und Geilem und Zotigem auf die Betrachter niederstrahlt, wäre selbst der tapfere Heilige Antonius von Padua mit seinem einfachen Kruzifix niemals so ungesündigt klar gekommen wie in Wilhelm Buschs Comicstrip.

Meine Zellen-Assoziationen überschlagen sich. Ich habe meine kleinen Gehirnzellen, auch sie grau wie mein Haupt seit langem, nicht mehr unter Kontrolle, eher umgekehrt. Wie war das noch mit diesen Zellen der verschiedenen terroristischen Organisationen? Und deren Counterpart, die Geheimdienste, bilden die nicht etwa auch – Zellen? Waren die jeweils entsprechenden Neugründungen dann Frisch-Zellen? Und wer oder was pflanzte sich da durch Zell-Teilung fort? Zellen braucht man nicht nur in Batterien als Stromquellen. Selbst ein so weit von RAF und CIA entferntes Computerprogramm wie beispielsweise MS Excel hat in seinen Tabellen, nach Spalten und Zeilen, als kleinste Einheiten – Zellen! Ich fange an zu rotieren. Wenn ich hier jemand mit aufs Einzelzimmer nähme – wäre das auch eine Zell-Teilung? Wie bringe ich hier und jetzt Zell am See in diesen Text? Und die Zeller Schwarze Katz?

Ruhig! Gaaanz ruhig!!!, sage ich mir, und lege mich in meinem EinZELLzimmer auf die Prit…, äh, aufs Bett, schalte den teuflischen Versucher ein, und während ich über dem unsäglich albernen Programm auf RAI Uno eindämmere, kommt mir als letzte Frage in diesem Zusammenhang: ist Zellulose vielleicht eine bisher nicht wissenschaftlich verifizierte Form der Psychose?

Und wenn! Egal! Ich habe ein Einzelzimmer gefunden, halbwegs passabel, zu einem Preis, den ich zu zahlen bereit bin. Da lasse ich mich doch nicht verrückt machen, etwa durch so idiotische Überlegungen wie: ob und was das alles mit Zellophan zu tun haben könnte…                                                                                    

  1. August 2009