ITA ING DEU

Notiz 59: Ein Tod in den Marken

Wie in einer Schreinerei sei das gewesen, ein Hämmern – wummwummwumm! – und Sägen, außerdem habe ein Radio gespielt, und da seien so bekannte Lieder gelaufen, dass sie einfach mitsingen musste; und der Herr Professor habe auch mitgesungen, so ein bisschen. Nein, kein Problem, alles wunderbar!

Unsere Nachbarin M. strahlt, als sie das erzählt und damit unsere Frage beantwortet, wie es ihr ergangen sei, da in der Nähe von Rimini, wo sie letzte Woche war, in diesem Mai 2010. Es war kein Urlaub am Meer, dazu ist es noch viel zu kalt auch hier, dieses Jahr. Außerdem ist M. über 70 und Rentnerin und einen Urlaub bei Rimini könnte sie sich nicht leisten. Sie war dort vielmehr in einer Klinik, wo ihr ein neues rechtes Hüftgelenk eingesetzt wurde. Unter örtlicher Betäubung. Sonst hätte sie das alles ja auch nicht mitbekommen, was sie da eben erzählt hat, strahlend, laut lachend, glücklich, dass sie so schnell wieder zu Hause sein kann und ohne die Schmerzen, die sie vorher kaum mehr schlafen ließen.
Und nicht nur ihr Mann G. freut sich mit ihr, auch wir. Schließlich erfahren wir dadurch ein weiteres Mal, dass auch hier in der italienischen Provinz die Fortschritte angekommen sind, welche die Medizin in den letzten Jahrzehnten so gemacht hat. Das beruhigt. Und bestärkt uns auch in unserer Überzeugung, dass es nicht an mangelnder Kompetenz der Ärzte oder unzureichender Ausrüstung des Krankenhauses in Senigallia gelegen hat, dass dort vor wenigen Tagen die Mutter unseres Freundes P. gestorben ist, im Alter von 83 Jahren.

Italien – genauer: die Marken, also jene noch immer weithin so unbekannte, vom Tourismus noch nicht entdeckte Region zwischen Adria und Apennin – ist seit Jahren unser Lebensmittelpunkt, also nicht mehr Ferien- oder Urlaubsort. Und so lernen wir eben auch jene Aspekte kennen, auf die man nicht achtet, wenn man irgendwo Urlaub macht (und Glück hat): Alltagssorgen; schwer zu lösende Probleme; Streit, z.B. mit Handwerkern; schlimmes Wetter; Krankheiten; Tod.
Und wir erleben die Unterschiede zu dem, was wir aus Deutschland kennen. Im Umgang mit dem Tod zum Beispiel. Ich habe im Lauf meines Lebens viele Menschen zur letzten Ruhe begleitet. Hier erfahre ich Neues. Was ich bisher kannte: der oder die Tote verschwindet. Wird separiert, aufbewahrt, entfernt, bis zur „Beisetzung“, die eine Woche oder noch länger nach dem Tod stattfindet. Fast eine Art Kontaktsperre. Allenfalls kurz vor dem „letzten Gang“ die Gelegenheit, noch einen Blick zu werfen auf die Leiche, ein paar Minuten zum Abschied, ehe der Sarg endgültig geschlossen wird.

Hier: P. hat uns eingeladen. Um vier Uhr nachmittags sollten wir kommen, in die Camera Mortuaria (ganz wörtlich: Totenkammer). Ein schlichter, nüchterner Raum im Krankenhaus, wo die Mutter am Morgen starb. Hier liegt sie nun, aufgebahrt im Sarg. Um den Mund dieser spöttische Zug wie immer, auch beim letzten Abendessen vor wenigen Wochen. Ich saß an ihrer Seite, sie hatte es bestimmt, so wie sie es gewohnt war, zeitlebens.
Bis kurz vor acht Uhr abends kommen sie und nehmen Abschied. Verwandte, Freundinnen und Freunde, Bekannte von ihr, von ihrem Sohn. Anders als ich es kenne: persönlicher, direkter, körperlicher. Sie streicheln der Toten die Stirn, die gefalteten Hände. Eine junge Frau, die lange für sie gesorgt hat, nachmittags, auch abends, findet ihre Lippen zu blass. Sie schminkt sie, dezent. Ich meine, die Stimme der Mutter zu hören mit der Bitte, eher: der Order: eine Zigarette! Eine dieser langen, dünnen Zigaretten, von denen sie bis kurz vor ihrem Tod so viele geraucht hat, jeden Tag.
Manche der Besucher weinen, verhalten oder hemmungslos, wie die junge Frau mit dem Lippenstift. Manche stehen wie versteinert. Auch ich wechsele zwischen diesen Extremen. Ebenso wie P.
Kühl ist es hier in der Camera Mortuaria, natürlich. Draußen, wo wir mit unserem Freund ab und zu ein bisschen reden, ist es warm, einer der ersten richtigen Sommertage in diesem Jahr, wolkenlos, heiter, windstill.
Wir haben Zeit, ganz viel Zeit. Wir nehmen Abschied. Am frühen Abend auch, von P.s Freundin hereingebracht, seine Tante, die Schwester der Toten, 88 Jahre alt, so klein, so gebrechlich, leicht verwirrt. Sie kann den Blick nicht abwenden vom Sarg. Immer neue Tränen.

Am nächsten Tag, um halb zwei Uhr nachmittags, erneut in der Camera Mortuaria, noch eine Stunde Zeit – bis zur Endgültigkeit: ein riesiger weißer Mercedes mit Kreuz auf dem Dach fährt vor. Sachliche Männer entsteigen, mit Papieren, Köfferchen. Nach endlosen zehn Minuten, in denen P. allein da drinnen ist, wird der geschlossene Sarg herausgefahren und in den Mercedes geschoben. Aus dem Schatten der Pinien im Hof des Krankenhauses gleitet der Wagen hinaus auf die Straßen von Senigallia.
Eher ernüchternd – für mich – dann das Funerale im Duomo, der Hauptkirche der Stadt, eingeläutet von einer blechernen Glocke mit müde schleppenden Schlägen. Ein Ritual ist ein Ritual ist ein Ritual, wie auch bei uns, hier katholisch natürlich. Der Priester da vorn am Altar im langen weißen Rock mit allerlei roten Zierstreifen kommt mehrmals ins Stottern, verliert den Faden – irgendwie unprofessionell. Seine persönlichen Worte offenbar Textbausteine, mit geübter Emotion vorgetragen. Die Hostien, die er irgendwann reicht, nehmen nur ganz wenige, fast nur Frauen, ein paar überraschend junge darunter, modern aussehende.

Dann zum Friedhof, etwas außerhalb von Senigallia, wunderschön auf einer Anhöhe gelegen. Hinter dem prunkvollen Mercedes ein paar betagte Kleinwagen, zwei Mittelklasse-PKWs, ein SUV. Lang der Weg vom Parkplatz zu dem mehrstöckigen Grabhaus. In der dritten Etage ist ein Schacht offen. Auch heute strahlt die Sonne vom wolkenlosen Himmel. Quälend lang dauert auf einem altertümlichen Hebegerät das Hochpumpen des Sarges. Als er dann mit einiger Mühe hineingeschoben ist, beginnt ein geübter Maurer die Öffnung zu schließen, zügig Stein um Stein, der Zement mit der Kelle, der Glattstrich. Der Beerdigungsunternehmensbeauftragte im korrekten Anzug mit Krawatte – als einziger hier – beobachtet, bittet schließlich P. um die Unterschrift: alles in Ordnung. Tutto a posto. Nur die Tante will es noch immer nicht glauben. Mit leergeweinten Augen starrt sie in die Höhe: É morta, murmelt sie, mia sorella, é morta.

Am Abend treffen wir sie und P. und seine Freundin in einem Restaurant in Corinaldo zum Essen. Das wiederum ist so ähnlich wie der Leichenschmaus in Deutschland, auch Scherze haben zunehmend ihren Raum. Das Essen ist gut, der Wein ist gut, die Tante nimmt als einzige auch ein Dessert. Espresso für uns alle. Ein Varnelli, ein Grappa. Gegen elf der Abschied: Ci vediame, a presto, wir sehen uns bald wieder!

Der Satz ist so banal, weil er so wahr ist: das Leben geht weiter.

08.06.2010