ITA ING DEU

Notiz 57: Entzug

Drei Wochen! Einundzwanzig Tage!! Nicht zu erfassen die gefühlte Zeit in Stunden, in Minuten – und jetzt, wo ich das schreibe, hält der Zustand immer noch an, ein Ende nicht abzusehen…

Der Zustand: ein Leben ohne Laptop. Wie das? Nun, eine kleine falsche Bewegung am Abend des 8. Dezember: beim Versuch, den Kopfhörer wieder anzuschließen, versehentlich in die Buchse für USB-Stecker geraten – ach wo!! überhaupt keine Gewalt!!! Und trotzdem: Licht aus, totale Finsternis; also auf dem Bildschirm. Nicht wieder in Gang zu kriegen, das Ding, das blöde. Auch nicht mit dem Zauberknopf „Reset“ auf der Unterseite des Rechners. Dass man hierzu übrigens „mit Hilfe einer aufgebogenen Büroklammer“ hantieren soll, scheint mir angesichts der Hightech-Sphäre, in der sich diese Wunderkreationen menschlichen Schöpfergenies bewegen, ganz unangemessen steinzeitlich. Aber es funktionierte ja sowieso nicht, wie gesagt.

Also in den nächsten Laden, der Hilfe in solchen Fällen verspricht. Vielversprechend der Name: „Group TECNODATASYSTEM – team work for your business“, und das in dem italienischen Dorf hier. Aseptisch cleanes Büro. Die Arbeitstische hinter der großen Glasscheibe voller solcher Geräte wie das meine, die Deckel hochgeklappt, flotte fixe Jungs davor oder am Handy, alles signalisiert „pronto soccorso“ (Erste Hilfe), das Gefühl, hier wird dir geholfen, schnell und kompetent. Nur leider, leider, mein Vorteil mein Pech: auf meinem Gerät ruht noch die magische Aura der Zwei-Jahres-Garantie. Das bedeutet: zurück nach Hause, den Kaufbeleg suchen und zum Glück auch schnell finden. Ein Anruf bei der Werksvertretung in Ratingen, weil in Deutschland gekauft, dort großartig-großzügig die Versicherung, dass die Garantie weltweit gelte, also selbst in Italien. Was dann allerdings auch bedeutet, dass die fixen flotten Junges ihre ebensolchen Finger und ihre unübersehbare Kompetenz allein dazu nutzen dürfen, das Gerät nach Mailand zu verschicken. Mein Glück dabei: die Werksvertretung meiner Laptop-Marke gilt als die schnellste im Lande; mein Pech: Weihnachten, Silvester, Neujahr. Aus der hoffnungenweckenden Einschätzung „innerhalb von fünf Arbeitstagen normalerweise wieder zurück“ wird deshalb nix. Ungewollt, ungeplant, ungewöhnlich still also die heilige Nacht in diesem 2009. So wie die Tage vorher. Und danach.

Entzug. Doch! Wirklich und wahrhaftig Entzug. Erscheinungen, wie ich sie kenne, wenn ich – wie schon mehrfach – aufgehört habe mit dem Rauchen. Nervosität. Das Gefühl, es fehle mir etwas. Die Angst, Wichtiges zu verpassen, man ist doch an die Flut der Emails so gewöhnt und an die Informationen und Nachrichten aus aller Welt. Die Unruhe der Ungewissheit, ob Dringendes vielleicht nicht erledigt wurde. Stress. Stress.

Aber Augenblick mal! Das darf doch wohl nicht wahr sein! Ich bin doch noch immer ein Mensch, ein erwachsener Mensch, ein sehr erwachsener Mensch, mit 70 Jahren! Soll ich mich tatsächlich von einer unausgereiften Maschine (den Geist aufgeben wie oben geschildert ist einfach unausgereift!) – soll ich von sowas abhängig sein??! Bleiben wir doch mal sachlich. Verhalten wir uns ab- und aufgeklärt. Angemessen ausgedrückt also: cool.

Was fehlt mir denn, wenn dieses Ding da nicht da ist?? Fehlt mir überhaupt etwas? Aber klar doch! Was früher, in den schönen Zeiten des von uns kopierten französischen Existenzialismus’, nach dem Frühstück der Griff zur filterlosen schwarzen Fluppi war, wurde in der Phase des antinikotischen Wellnessianismus der leichte Tipp auf den Startknopf des schnörkellosen edelgrauen Läppi. Tief reingezogen dann statt Rauchwolken die Infoschwaden von  Amazon bis zdf.de. Der körperliche Befriedigungswert: in etwa der gleiche. Mental in beiden Fällen die selbstkritische Einschätzung, dass so richtig gesund weder das eine sei noch das andere. Und irgendwie pervers: sowohl bei der nichtkonsumierten Zigarette wie bei den verpassten Neuigkeiten aus aller Welt das Gefühl eben, da fehle einem doch etwas, zum Glück. Zum Glück? Unsinn: zum Glück fehlte da nichts. Die Erscheinung also eher ein gefühlter Irrationalismus…

Ernster zu nehmen die Tatsache, dass doch wirklich so einiges fehlt. Die Telefonnummern und Anschriften zum Beispiel der Weihnachts- und Neujahrswünsche-Adressaten ruhen allein auf der Festplatte. Die bequemen Möglichkeiten, die Kontenstände abzurufen, ebenso. Es müssten zudem Änderungen vorgenommen werden auf der Homepage, neue Annoncen geschaltet, elektronische Buchungsanfragen abgerufen und beantwortet werden. Geschieht dies alles nicht, drohen Einkommensverluste. Sicher: nicht in den Dimensionen von Hyper Real Estate oder Porsche. Aber immerhin doch! Und das unterscheidet den Entzug eines Computers von dem einer Cigarette: in letzterem Fall wächst das verfügbare Guthaben…

Ernsthaftes Resumee, heute, am 27. Tag ohne: ziemlich blöd, irgendwie, dieses Gerede von Entzug und Unverzichtbarkeit! Man kann diese Erscheinungen sehr wohl ertragen, vor allem, wenn man sie abmildert – durch das Zurückgreifen auf die seit Jahrhunderten bewährte Methode, wichtige Dinge (heute: „Daten“) schriftlich festzuhalten, mit Tinte oder Kuli auf Papier; oder durch das Schaffen von Ersatzbefriedigungen: das Lesen eines guten Buches übertrifft vielleicht doch immer noch den Lustgewinn, den man aus nervigem stundenlangem Rumstochern in Internet-Angeboten (sprich: „Surfen“) ziehen mag. Bei mir kommt hinzu: ein Uralt-Laptop, mit nur einem Laufwerk und WIN98 als Betriebssystem – doch, das gab es mal, Luther hat, glaube ich, seine Bibelübersetzung damit gefertigt. Ich habe den drögen schwarzen Kasten sogar – mit ziemlicher Mühe – einrichten können für das Abrufen von Emails; was allerdings ewig dauert, bis die heruntergeladen sind. Aber die Erfolge stellen sich langsam ein: seit vier Tagen träume ich tatsächlich nicht mehr so alpiges Zeug wie zuvor, sondern so absurd-heiter-komische Dinge wie von dem Besuch, den ich weiß der Geier warum einem SPD-Parteitag abstatte, auf dem ein neues Programm für die nächsten 50 Jahre beschlossen werden soll.

Trotz alledem aber: so langsam und allmählich könnte dieses blöde Ding da doch wirklich aus Mailand zurückkommen und wieder vernünftig funktionieren wie zuvor. Verdammt nochmal!!! Sonst… –

 

PS: Am 8. Januar, genau einen Monat nach dem Absturz, erreicht mich auf dem Handy in einem Café in Ostra die Nachricht: Ihr Laptop ist da. Und alle Daten sind noch vorhanden. Nur das Mutterbrett (oder wie heißt  dieses Ding „Motherboard“ auf deutsch?) sei ausgetauscht worden. Na dann! Hoffen wir das Beste, liebe User…

  1. Januar 2010