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Notiz 49: Nachsaison

Der Mann erinnert mich an Anthony Quinn im Film „Alexis Sorbas“. Er ist damit beschäftigt, die blaurot gestreiften Sonnenschirme und Liegen seines „Bagno“ mit einem kräftigen Wasserstrahl aus dem gelben Schlauch sauber zu spritzen und dann ordentlich in Reih und Glied zum Trocknen aufzustellen, was in der – Mitte September – immer noch heißen Sonne nicht lange dauern wird. Das Bild ist eines der Signale dafür, dass die Saison 2008 vorüber ist, hier an der italienischen Adriaküste bei Senigallia. Nur noch wenige Menschen am Strand, auf den Badetüchern im Sand und im Meer. Oder – wie wir vier – auf der Terrasse des Ristorante LUNA ROSSA zum Mittagsimbiss mit Chitarrine con Gamberetti e Curry, Bufala e Melone, Insalata Mista, Risotto Pescatore, Weißwein, Wasser, caffè – ein Sommerabschlussessen, ehe wir uns zur Siesta auf dem warmen Sand ablegen.

Die Nachsaison hat begonnen. Statt der knapp 32 Grad heute, am Donnerstag, wird es am kommenden Montag, nach einem gewalttätigen Gewitter mit endlosem Sintflutregen, dem ersten seit vielen Wochen, einen Temperatursturz geben auf fröstelige 15 Grad. Ich habe immer gesagt, dass ich die Nachsaison liebe, mehr als alle anderen Jahreszeiten. Wir waren oft in diesen Wochen unterwegs, am Meer in Italien, Frankreich, Spanien, Griechenland. An den von Touristenmassen befreiten Stränden, in Restaurants, in denen Ober und Bedienungen trotz der unübersehbaren Erschöpfung nach dem Ansturm in den Sommermonaten wieder Zeit haben für die Gäste, plaudern, scherzen, geduldig ausführliche Empfehlungen geben und nicht mehr durch das ganze Lokal hetzen müssen, weil ja nur noch wenige Tische besetzt sind. Und die Hotels, in denen man sich jetzt die Zimmer ankucken kann, auswählen und den Preis herunterhandeln, ohne Aufschlag für das Frühstück, serviert auf dem eigenen Balkon mit Meerblick.

Aber nicht nur das. Ich habe immer auch gern dazu gesagt, dass mir diese Jahreszeit so gefalle, weil sie so ehrlich sei: die unübersehbare Abschiedsstimmung, die dezenten Hinweise auf die Vergänglichkeit.

Und da ist in diesem Spätsommer 2008, nach einer für uns schönen, aber auch anstrengenden Saison als Gastgeber im Adagio, etwas hinzugekommen zu dieser meiner seit langem gepflegten Einstellung. Ohne vorher erkennbaren Grund ist mir in einem ganz alltäglichen Gespräch – also nicht in einer unangenehmen Diskussion, gar einem belastenden Streit – das Thema entfallen. Einfach weg. Wovon war doch gerade die Rede? Von… von… – äh…

Es dauert nur kurz, nach dreißig, vierzig Sekunden ist der Blackout vorbei. Das Thema ist wieder da – aber auch ein Schreck. Und die Erinnerung, dass mir das Gleiche schon einmal passiert ist, vor ein paar Wochen, einem Monat oder so, in einem Telefonat mit einem Freund; und da hat das länger gedauert, eine oder zwei Minuten vielleicht.

Grund genug, einer Untersuchung im Pronto Soccorso, der Notfallstation des Krankenhauses in Senigallia, zuzustimmen. Das zieht sich hin, andere Fälle sind natürlich dringender, Verkehrsunfälle zum Beispiel. Zeit genug also beim Warten zum Nachdenken, zu Beobachtungen. Etwa die Zufriedenheit mit dem Standard, den dieser Pronto Soccorso hat, die modernen, gepflegten Räume, und auch die Qualität der dann folgenden Untersuchungen, bei drei Ärzten, mit Zeit für mich, erkennbarer Professionalität und modernsten Geräten, zum Beispiel auch dem TAC, dem Gerät zur Computertomographie des Kopfbereiches. Ein EEG soll noch gemacht werden, in der kommenden Woche, höchstvorsorglich dann auch noch eine Magnetresonanz-tomographie.

Alles bisher, zum Glück, ohne erschreckenden Befund. Eine gewisse Erschöpfung sei bemerkbar. Kein Grund zu panikartiger Reaktion. Ich solle mich schonen, ausruhen, erholen, kürzer treten; von meiner in Kürze geplanten Flugreise in die USA rät außer dem Hausarzt auch der Neurologe ab, sehr entschieden. All das führt dazu, dass mir nach ein paar Tagen dann dieser Gedanke kommt: da hat sich wohl die Nachsaison meines Lebens bemerkbar gemacht. Auch dies kein Einbruch, kein Grund zur Depression. Dennoch: ein Hinweis auf mein Alter, der Rat meines Körpers, ehrlich zu mir selbst zu sein, einen Gang zurückzuschalten, nicht mehr wie bisher ständig Höchstgeschwindigkeit zu fahren, weder beim Arbeiten noch beim Feiern. 

Ich habe, nach einem ein bisschen wirren und nicht so bewusst verbrachten Lebensfrühling einen langen, langen Sommer gehabt, mit intensiv genossenen heißen Phasen, einer Fülle traumhafter Erlebnisse, in meinen Jobs, im jeweiligen Alltag in den verschiedenen Städten, auf meinen zahllosen kurzen oder ausgedehnteren Reisen, mit Freude an Erfolgen und manchmal auch dem Stolz darauf; auch mit Gewittern natürlich, Hagelschlägen, Temperaturstürzen, Kälteperioden, aber all das stets nur – vergleichsweise – kurz und, letzten Endes, nie wirklich schlimm.

Und jetzt hat also die Nachsaison begonnen, auch die meines Lebens. Kein Fall von Tragik. Es gibt noch genug zu erleben und genießen, nichts deutet auf ein rasches Ende hin. Diese Nachsaison, so denke ich, so hoffe ich, wird noch Jahre andauern, mit Vorsaisonerwartungen nach herben Wintern, mit prallen lebensfrohen, heißen Sommern und dem erneuten Genuss der jeweils folgenden Nachsaison, so wie eben jetzt in diesem Herbst 2008.

Eines allerdings weiß ich auch: einen neuen Frühling wird es zwar im nächsten Jahr geben, im übernächsten, wer weiß wie oft noch. Einen neuen Lebensfrühling für mich aber nicht.

  1. September 2008