ITA ING DEU

Notiz 69: Innehalten

Es gibt Wörter in der deutschen Sprache, bei denen ich, wenn ich sie denke, höre oder lese, so ein bisschen fremdele. Das soll heißen: erst einmal irritiert bin, weil das Wort nicht zu meinem selbstverständlichen und üblichen Wortschatz zählt. Fremdeln z.B. gehört dazu. Oder Innehalten. Als ich dieser Tage, also kurz nach dem Wechsel der Jahre 2011 und 2012, mich nachmittags zur üblichen Siesta hingelegt hatte und so darüber nachdachte, was denn jetzt wohl wichtig sei, was ich in diesem neuen Jahr tun müsste oder zumindest sollte oder vielleicht auch nur könnte, angesichts all dieser pausenlos auf mich einstürmenden Fragen und Probleme und Meldungen und Informationen, im privaten Bereich, vor allem aber im sogenannten öffentlichen, da kam mir plötzlich das in den Sinn: Innehalten. Du könntest einfach mal innehalten.

Kaum hatte ich das gedacht, da war ich prompt irritiert. Nicht nur, dass ich dieses Wort nur sehr selten verwende, es scheint mir auch kein besonders moderner Begriff zu sein. Innehalten – das klingt doch eher verstaubt, altertümelnd, vielleicht sogar ein bisschen reaktionär. Nun lebe ich ja auch an einem Ort in der tiefsten Provinz Ancona, in den italienischen Marken, das ist vielleicht so ähnlich wie, will mal sagen: Westrhauderfehn in Ostfriesland oder Schnaitsee in Oberbayern. Also weit weit weg von den „Zentren“, wo der aktuelle Lauf der Welt bestimmt und gestaltet wird. 

Obwohl: so weit weg ist das nun auch wieder nicht. Wenn ich etwa meinen Platz da am Fenster verlasse, von dem ich über das Tal hinweg in die Hügel schauen kann, auf die Wiesen und die Felder, die gerade langsam vom wachsenden Wintergetreide ergrünen, was auch unsere Katzen geschäftig erkunden, da es ja auch ihr Gelände ist – wenn ich also da weggehe, die paar Meter hinüber zu dem uralten, ovalen Kirschholztisch in meinem Arbeitszimmer und den Laptop einschalte, dann bin ich mitten drin. Mitten im hektischen, pulsierenden, prallbunten Treiben der Bänker, der Börsianer, der Bosse, erlebe ihre Beziehungsdramen mit und ihre Versuche sie zu bewältigen, in Bungabungalows oder gleich in den besten Bordellen in ihrer Nähe; ich erlebe live die aggressive Gelassenheit eines scheinsouveränen Bundespräsidenten oder ich beobachte eine Bundeskanzlerin, die, wo immer sie geht und steht, überlegen alles aussitzt, sogar Probleme, die ihren Zieh-Opa Helmut zumindest zum Stirnrunzeln bewegt hätten. Ich komme kaum nach mit dem Hin- und Her-Zappen zwischen Obama und Occupy Wallstreet, Putin und Papademos, Spread und Sprite, Rating-Agenturen und Ratzingers entzückliche Abwertungen – ja, wo könnte ich denn dichter dran sein an den berühmten Plätzen mit den sprichwörtlichen Schalthebeln? Allerdings kann ich zwar hören und sehen und lesen, diskutieren, schreien, Emails verschicken, Internetumfragen beantworten, an Abstimmungen auf Tagesschau.de teilnehmen, sogar die FDP wählen – aber irgendwas wirklich entscheiden oder auch nur mitbestimmen kann ich sowieso nicht. Bin ich denn ein Ackermann oder ein Maschmeyer oder eine Frau Springer oder einer wie die Herren Porsche und Piech? Nein. Was ich kann, ist: mich aufregen, Wutanfälle kriegen, Drohungen ausstoßen, vielleicht sogar, wenn ich die Nummern habe, auf Mailboxen brüllen; höchstwahrscheinlich aber kann ich allenfalls Magengeschwüre kriegen von alledem.

Oder eben: ich könnte mal innehalten. Den Computer abschalten. Das Handy auch, und ein I-Pad gar nicht erst kaufen. Ich könnte dabei bleiben, dass ich weder ein Facebookfreundchen werden noch dass ich das Fernsehen haben will, hier im Haus. Mit den italienischen Programmen schon gar nicht (die laufen zur Abschreckung ja in Cafés, Bars und Ristorantes unentwegt und unüberhörbar); aber auch das, was ich so gelegentlich in der BRD sehe, ist für mich von A(RD) bis Z(dF) durchaus verzichtbar. Außer vielleicht mal ein Spielfilm, aber den kann ich mir auch auf DVD besorgen und reinziehen.

Innehalten: vielleicht klingt das deshalb so antiquiert, weil es darauf hinweist, dass man sich nicht mit dem ganzen Außen-Schrott befassen, sondern sich auf das Innen besinnen sollte. Auf eigene Gedanken kommen, eigene Ideen entwickeln, eigene Themen setzen, statt sich das angeblich so Wichtige, Bedeutende, Entscheidende aufzwingen zu lassen. Ob „die mächtigste Frau der Welt“ den unbedeutendsten Bundespräsidenten nach Heinrich Lübke weiter im Amt hält; ob die Schröder noch schrecklicher ist als es der Schröder schon war; ob dreimal A-plus oder dreimal schwarzer Kater dem Euro mehr hilft – na und??

Also zurück ans Fenster. Hinausschauen. Den Ausblick genießen. Jetzt schon, auch wenn die Bäume noch blattlos sind und die Wiesen morgens raureifweiß schimmern. Innehalten, auch im Blick nach vorn, in den warmen Frühling und den heißen Sommer. Hier kann ich das, mich ausruhen, eine Ruhepause einschieben, verschnaufen, mich entspannen, Atem schöpfen oder was es sonst noch für Synonyme dieses Wortes gibt. Kein Grund also zu Irritationen bei diesem Gedanken an ein „Innehalten“. Im Gegenteil: innehalten – zumindest immer mal wieder für einige Zeit – ist wahrscheinlich viel moderner und aktueller als alles clicken, scrollen, downloaden, forwarden, smsen, skypen, googeln, chatten und twittern zusammen…

18.01.2012

Notiz 68: Dass Schießen Spaß macht…

Der 1. September ist von einiger Bedeutung, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Italien. Aus sehr unterschiedlichen Gründen. In Italien beginnt an diesem Tag die alljährliche Jagdsaison. Schon in den Wochen zuvor werden die armen, ausgemergelten Hunde trainiert, von ihren viel besser im Futter stehenden Herrchen, und am ersten Wochenende im September geht es dann so richtig los. Martialisch kostümiert, im wahren Sinn des Wortes, also dem Kriegsgott Mars huldigend in Tarnklamotten, mit Schießprügeln über der Schulter, am Anfang, wenn es um den Feldzug gegen die gemeingefährliche Tortora, die Turteltaube, geht, häufig auch in eigens für die Jagd gebauten kleinen Unterständen aus Ästen und Zweigen, opfern ganz viele italienische Männer (Frauen haben wir bei dieser Tätigkeit noch nicht gesehen) viele Tage, oft von morgens bis abends, und oft – trotz unaufhörlichem Geballere – ohne vorzeigbares Ergebnis. Kopfschüttelnd beobachten wir Deutschen dieses Schauspiel; da sind wir doch auf dem Weg zu einer höher stehenden Kulturentwicklung ein ganzes Stück weiter fortgeschritten. Denken wir. Und sagen wir uns auch gerne. Und schütteln erneut die Köpfe. Auch ich.

Und dann spielt der Zufall mir ein Hochglanzprodukt des deutschen Pressewesens in die Hände. PIRSCH heißt es. Ich lese. Und staune, ein ums andere Mal. Und lerne. Was ich zum Beispiel überhaupt nicht wusste, obwohl ich doch in meinem langen Leben an sehr vielen Dingen meinen Spaß hatte. wenn ich auch nicht der später sich formierenden Spaßgeneration angehörte. Aber auch diese hat, soweit ich weiß, nicht gewusst, was der Chefredakteur der PIRSCH weiß. Und weil vielleicht der eine oder die andere das nicht so recht glauben mag, sei hier das Editorial faksimiliert wiedergegeben:

Schiessenmachtspass

 

Aber es gibt noch mehr, viel mehr zu lernen. Nicht nur in den Annoncen, auch in seitenlangen Artikeln werden Waffen dargestellt, wie etwa der „Geradezugrepetierer, der neue Maßstäbe setzt“ oder der „Verwandlungskünstler“, kein Komiker auf der Cabaret-Bühne, sondern „der neue Mauser-Stutzen M 03, der mit wenigen Handgriffen in eine herkömmliche Repetierbüchse mit Halbschaft umgebaut werden kann.“ Sehr bedauerlich, klar, dass die Jagdsteuer in der Pfalz nicht abgeschafft wird. Erfreulich dagegen die Kochrezepte: Rehleber mit Thymian oder Keulenscheiben vom Reh. Und dass unter „Bekanntschaften“ eine Jägerin mit Hund, unabhängig, ca. 1,80 m „Dich kennenlernen“ möchte, leuchtet auch sofort ein, denn die Auswahl ist sicherlich groß und „Jede Sau ist anders“ (Artikelüberschrift auf S. 34).

Tja.

In Deutschland dagegen – oh, sorry, wir sind ja in Deutschland. PIRSCH erscheint zwei Mal im Monat. Mit einer Auflage von rund 35.000. Da bin ich ja womöglich irgendwie auf dem falschen Ufer, wenn ich den 1. September, wie üblich seit vielen Jahren, als jenen Tag begreife, der seit den 50er Jahren auch in der Bundesrepublik als Antikriegstag begangen wird. Also als Tag, der das Schießen nicht als Spaß versteht. Ja natürlich, ich weiß, ich weiß, da ist ein Unterschied zwischen dem, was PIRSCH meint und dem, was in Afghanistan vor sich geht. Aber könnte es nicht sein, dass jahrelanges Denken und Reden davon, dass Schießen Spaß macht, sich in zahllosen Hirnen als Grundsatz verfestigt hat? Zumal, wenn inzwischen auch Menschen, die man auf einem anderen Dampfer wähnte, uns erklärt haben: „Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt“. Ja wie denn? Mit dem Verteilen selbstgebackener Eierkuchen? Und wie sieht das an den anderen Schauplätzen aus? Derzeit sind rund 7300 deutsche Soldaten auf drei Kontinenten und zwei Weltmeeren im Einsatz (so der deutsche Bundeswehrverband vor wenigen Tagen). Bei Auslandseinsätzen kamen laut Wikipedia seit 1990 insgesamt 99 deutsche Soldaten ums Leben (Stand: 5. August 2011). Durch Ringelpietz mit Anfassen? Und wo gibt es die Zahlen derer, die durch deutsche Schusswaffen oder sonstige Munition gestorben sind?

Dass Schießen Spaß macht – hier in Italien sehen wir es jedes Jahr ab dem 1. September in der Jagdsaison. Sind wir in Deutschland wirklich auf einer höheren Kulturstufe angelangt? Ich habe da meine Zweifel. Den 1. September auch weiterhin als Antikriegstag zu begehen wie seit Jahrzehnten scheint durchaus angebracht. Finde ich.

28. August 2011

Notiz 67: Wie im Film

Viele Filme, wahrscheinlich sogar die meisten, geben sich die größte Mühe, so zu sein wie das wahre Leben. Manchmal gibt sich auch das wahre Leben die größte Mühe, so zu sein wie ein Film; vor allem wie ein spannender Film. Das kann doch nicht wahr sein! sagen die Leute, wenn man eine solche Geschichte erzählt, das gibt es doch nicht!

Hier ist so eine Geschichte, vom 1. August 2011.

Es ist 12.14 Uhr. Stazione Senigallia, italienische Adriaküste. Heiß ist es, über 30 °. Normalerweise würden wir beide jetzt ans Meer fahren statt zum Bahnhof. Geht aber heute nicht. Ich habe ein Ticket für den Intercity, der um 12.26 Uhr hier abfährt. Ich will nach Bologna, Ankunft dort 14.35, Zeit reichlich, um dann mit dem Bus zum Aeroporto zu fahren und das Flugzeug nach Köln/Bonn zu kriegen, das um 16.40 Uhr abfliegen wird.

Ein Blick auf die Anzeigetafel im Bahnhof löst ungläubige Verwirrung aus. Vor meinem Zug wird die Ankunft eines anderen IC angekündigt, für 11.23. Und im Kästchen daneben: Verspätung 325 Minuten. Nicht 3,25, nicht 32,5. Nein: 325 Minuten. Gleich darauf eine Durchsage dazu, mit der Erklärung: bei Bari seien die Geleise von Demonstranten blockiert. Ein unguter Verdacht bestätigt sich: auch mein IC kommt von dort. Auch er wird also in den nächsten Stunden nicht hier sein. Wir beraten, durchaus noch gelassen.

Mit dem Auto fahren? Lieber nicht. Heute ist Ferienbeginn in Italien, die Autostrada 14 ist über weite Strecken Großbaustelle, sie wird sechsspurig ausgebaut. Und es gibt ja noch diesen anderen Zug, um fünf vor eins. Also zum Schalter, umgebucht, kein Problem, kostet auch nur 12,80 Euro statt 19. Und ich bin schon früher mal mit diesem Zug gefahren, wenn ich die Nerven für knappes Timing zu haben glaubte.

12.54. Der Bummelzug – Treno regionale klingt besser, finde ich – fährt pünktlich ein, Kunststück, er kommt aus Ancona, 30 km von hier. Und er ist deshalb auch fast leer.. Umarmung, Kuss und Daumendrücken, dass er ebenso pünktlich in Bologna ankommt. Um 15.20 nämlich. Dann bleibt mir genügend Zeit, der Check-in-Schalter am Aeroporto schließt um zehn nach vier.

Ein schöner Platz am Fenster, die Zeitung kann ich später noch lesen, jetzt lieber aufs Meer geschaut, direkt neben den Geleisen, bis Pesaro – also knapp 50 km – Strände, viele frei und leer, auf anderen bunte Sonnenschirmplantagen, Wohnwagenstädte, bleiche Touristen auf dem Sand und im Meer. Ferienfriedlich alles.

Allerdings: an jeder Station – und der Regionale hält sehr oft – steigen mehr Fahrgäste ein als sonst. Urlauber, klar. Meist junge Leute mit schweren Rucksäcken. Ich nehme la Repubblica und lese. Auch als der Zug ab Cattolica wieder den Meerblick bietet, wenn auch distanzierter, eher die Rückseite der mondänen Hotels und renovierungsbedürftiger Pensionen. Die Sitze mir gegenüber und neben mir besetzt inzwischen. Ruhige Menschen, zum Glück. Vielleicht auch nur müde. Alles Jungs unter 30, einer löst Sudoko und schwitzt, die anderen schwitzen und dösen, alle mit Ipad im Ohr. Ich lese und schwitze auch.

14.01. Durchsage, dass wir nun gleich in Rimini ankommen. Mit zehn Minuten Verspätung. Trenitalia entschuldigt sich für diese Unannehmlichkeit. Auf dem Bahnsteig Menschenmassen. Klar: da sind auch jene dabei, die mit den beiden ICs fahren wollten, welche jetzt vermutlich noch immer in der Gegend von Bari auf den Geleisen stehen, zusammen mit den Demonstranten. Als wir weiterfahren, stehen die Fahrgäste auch im Gang und auf den Flächen zwischen den Waggons. Die Temperatur steigt immer noch, keine Klimaanlage und nur wenige Fenster lassen sich öffnen.

Nächste Stationen: Cesena. Dann Forlì. Sie werden angesagt, unsere Verspätung nicht mehr. Ich bin schon nervös. Der Zug hält auf jedem Bahnhof viel zu lange, für meinen Geschmack. Dann auch noch ein Halt auf freier Strecke, schier endlos. Im Schritt-Tempo weiter. Einfahrt in der Stazione Castel Bolognese. Nie gehört. Stopp, im Fahrplan nicht vorgesehen. Eine Durchsage. Ich verstehe nicht richtig, frage den Jungen gegenüber. Ich habe richtig verstanden: der Zug wird hier eine Stunde halten. Mindestens. Betriebsbedingt.

Es ist inzwischen 15.12 Uhr. Nach einer hitzeverdösten Schreckminute packe ich mein Gepäck und steige aus, wie viele andere auch. Vor dem kleinen Bahnhof ein großer Platz ohne Schatten. An der Wand ein Schild TAXI, dazu eine Telefonnummer, die man bei Bedarf anrufen soll. Ich probiere es, besetzt, klar, um mich herum 20, 30 Leute mit dem Handy am Ohr. Ich rufe zu Hause an und erfahre gleich darauf: zum Aeroporto sind es 54 km. Ein Mann, zwischen 40 und 50, spricht mich an, ob ich auch Deutscher sei. Ja. Er will auch zum Flughafen. Welcher Flug? Auch nach Köln/Bonn… Er heißt übrigens H.

Es tut sich nichts auf dem Platz, zu hören nur Flüche in vielen Sprachen, auch schwyzerdütsch z.B. Ganz selten nur mal ein Auto. Ein Lieferwagen. Fährt vorbei. Ein Geländewagen. Dreht ab. Ein SUV, hält, parkt, der Fahrer trottet in die Bahnhofskneipe nebenan.

Tja. Das war’s dann wohl mit dem Flug. Wenn ich Glück habe, komme ich heute noch nach Bologna.

Und dann – und ich weiß wirklich nicht mehr, wie es dazu kam – steht ein paar Meter vor H. und mir einer von diesen gesichtslosen Kleinwagen, weiß, viertürig. Die Fahrerin, höchstens 25, kurze schwarze Haare, modische Brille, T-Shirt, Jeans, Italienerin natürlich, steigt aus. 

„Entschuldigung“, höre ich mich sagen, verlegen, so was mache ich sonst nicht, „wir müssen zum Aeroporto Bologna. Könnten Sie uns nicht bitte… vielleicht…?“

„Nein“, sagt sie, freundlich, es tut ihr leid, aber sie muss gleich zur Arbeit.

„Aber unser Flugzeug…“, stottere ich hinter ihr her.

Sie dreht sich wieder um, mustert uns beide. Dann sagt sie, nach Imola könne sie uns bringen. Da gebe es Busse nach Bologna und zum Flughafen. Wahrscheinlich auch Taxis.

Wunderbar, perfekt! rufe ich hektisch. Wir laden unser Gepäck in den Kofferraum, steigen ein. Auf den vierten Platz schiebt sich netter, pausenlos quasselnder junger Italiener. Die Fahrerin steht noch draußen, plaudert in aller Ruhe mit einem älteren Mann, den sie offenbar kennt. Ich steige aus. Dank meiner Nerven lauter als geplant: „Andiamo! Andiamo!! Prego! Pregooo!!!“ Es ist 20 nach 3.

Sie steigt ein, fährt los. Als wären wir auf der bekannten Rennstrecke hier in der Nähe. Ich kann mich nicht erinnern, jemals so rasant gefahren worden zu sein, egal ob von einer Frau oder einem Mann. Aber keine Angst. Nur immer wieder der Blick auf die Uhr. Hinter einem schleichenden LKW. Vor einer eingeschlafenen roten Ampel.

Dann Busbahnhof Imola, ein Pullmann. Der junge Italiener rennt hin, kommt zurück: in einer halben Stunde fährt der nach Bologna, Hauptbahnhof. Ihm passt das. Uns beide bringt die Frau zur nahen Stazione. Schon von weitem zu sehen: zwei Taxen. Was wir ihr schulden? Ach, was Sie denken… H. gibt ihr einen Zwanziger. Aber nein, sagt sie, das ist zu viel, und gibt ihm 5 zurück.

Aus dem kleinen Häuschen nebenan kommt der Fahrer des einen Taxis. So um die 30, fröhlich, wohin wir wollen? Wie lange er zum Aeroporto braucht? Naja, 35 Minuten, 40 vielleicht. Und es koste 60 € für uns zwei.

15.31. Wir steigen ein, hastig. Fahren Sie so schnell wie möglich, sage ich. Wie Alonso, sagt H. Der Fahrer hat verstanden. Prescht durch den Ort. Auf der Ausfallstraße ein Riesenlaster mit Anhänger, quält sich zum Rotlicht an der Ampel hin. Unser Fahrer nimmt die Linksabbiegerspur, bei grün startet er mit quietschenden Reifen. Kurz darauf die Autostrada. Zum Glück hat das Taxi natürlich Telepass. Noch mehr Glück: wenig Verkehr in Richtung Norden, auf der Gegenfahrbahn Schlangenverkehr, alle drei Spuren.

Und jetzt, wirklich wie im Film: bei jeder Entfernungsanzeige nach Bologna neue Berechnung der verbleibenden Zeit bis 16.10. Noch könnte es… Luft anhalten bei jedem Fahrzeug, das wir nicht überholen können.

Dann abbiegen auf die Tangenziale. Auch hier erstaunlich moderater Verkehr. Dennoch endlos die Strecke mit den zahllosen Ausfahrten bis es endlich, endlich heißt: AEROPORTO, nach rechts. Es ist zwei Minuten nach vier. Das Taxi brettert die Auffahrt hoch zu PARTENZE. Ich habe die 60 € parat. Wir halten vorm Eingang. „Nein!70!“ sagt er, „Autobahngebühr!“ H. drückt ihm einen weiteren Zehner in die Hand.

Die Abflughalle überfüllt. Urlaubsbeginn auch hier natürlich. Wo ist unser Schalter? Wir hetzen entlang. H. entdeckt ihn. Der einzige leere Schalter. Bis auf die junge Frau dahinter. Es ist 16.09.

„Gehören Sie zusammen?“ fragt sie, munter lächelnd.

„Nein, nein! Aber wir müssen beide…“ sage ich.

„Ja, ja, das ist schon klar!“ Und zu mir, weiterhin nett und freundlich: „Warten Sie doch bitte hinter der gelben Linie da!“

Der Check-in kein Problem. Die Sicherheitskontrolle kein Problem. Das einzige Problem, im Augenblick, für uns beide: eine Toilette.

Aber auch das, auf diesem modernen Aeroporto in Bologna, natürlich kein Problem.

13,08.2011

Notiz 65: Erhörte Gebete?

Wessen Gebete sind da wohl erhört worden, und von wem? Die Macht dessen, der jetzt gerade, Ende Mai 2011, eine „disfatta“ (so die Zeitung la Repubblica) eingefahren hat, eine „vernichtende Niederlage“, bei den landesweiten Kommunal- bzw. Regionalwahlen, die Macht dieses Silvio Berlusconi also schien doch selbst jene noch zu übertreffen, die der Herr des Himmels mit seinem Zentralkomitte im Vatikan und dessen – derzeit sehr deutschen – Generalsekretär auf Erden besitzt, zumindest noch immer hier in Italien. Unvorstellbar deshalb gerade für diesen Cavaliere selbst, dass in „seinem“ Mailand, seiner Geburtsstadt, die er jahrzehntelang zur Mehrung seines inzwischen gigantischen Reichtums verungestaltet hat, nicht wie seit nunmehr 18 Jahren die Rechte das Sagen haben könnte, sondern der Kandidat der Linken. „Kein Hirn“ habe, so tönte er im Wahlkampf, wer so einen wähle, der Mailand zu einer „Zigeunerstadt“ machen werde, zu einer „islamistischen Metropole“ (diesen Sarrazinnober kennt man ja auch in der BRDDR).

Aber alles vergeblich. Sogar der geballte Einsatz seiner Medienmacht: kurz vor den Stichwahlen – der PD-Kandidat lag nach dem ersten Wahlgang mit 48 % sechs Punkte vor der amtierenden Bürgermeisterin – okkupierte Berlusconi (regelwidrig) auf fünf Sendern in den Hauptnachrichten am Abend minutenlang den Spitzenplatz für eine Propagandashow; und ein von ihm bestellter Kameramann filmte ihn, als er beim G8-Gipfel in Deauville einem offenbar zur Fassungslosigkeit versteinerten Barack Obama ernsthaft einreden wollte, dass in Italien eine „Diktatur“ herrsche, der „linken Justiz“.

Trotz alledem, trotz auch einer zersplitterten Opposition ohne klares Programm und ohne profilierte Figuren: es gibt noch – oder wieder – Hoffnung. Zwar haben diese Wahlen nichts geändert an den Machtverhältnisse in Rom, dort hat der Cavaliere immer noch die Mehrheit des Parlamentes hinter sich. Die aber bröckelt und sie wird weiter bröckeln. Immer deutlicher wird für alle sichtbar, dass der zentrale Punkt seines Regierungsprogramms nur und allein er selber ist, vor allem sein Schutz vor strafrechtlicher Verfolgung; noch laufen ja vier Prozesse gegen ihn. Und sichtbar geworden ist jetzt auch in diesen Wahlen, dass eine Mehrheit der Italienerinnen und Italiener die Nase voll hat von ihm. 

Die kommenden Wochen, Monate, Jahre werden nicht leicht sein. Die Wirtschaft des Landes ist ziemlich marode, die Vorsitzende des italienischen Unternehmerverbandes Confindustria, Emma Marcegaglia, hat gerade von „zehn verlorenen Jahren“ gesprochen, vieles ist bereits kaputt gemacht worden durch den sich krebsartig ausbreitenden „Berlusconismo“. Und womöglich ist Italien, nach Irland und Griechenland, auch bereits im Visier der Schock-Strategen (Empfehlung zur Lektüre: Naomi Klein, Die Schock-Strategie).

Zurück zur Frage vom Anfang: wenn es denn wirklich erhörte Gebete gewesen sein sollten, dann gibt es noch für ziemlich lange Zeit keinen Grund, damit aufzuhören. Aber einen Grund zu feiern gab es gerade – und das haben wir mit italienischen Freundinnen und Freunden auch getan. Und einen Grund, mit Hoffnung und einem neuen Optimismus nach vorn zu blicken, gibt es auch.

Anfang Juni 2011

Notiz 64: Stars unter sich

Das habe ich ja nun seit Jahrzehnten nicht mehr gehabt, und auch früher nur ganz selten, zum Beispiel mal beim Festival „Künstler für den Frieden“ 1982 in Bochum. Und dann jetzt nochmal, in diesem Alter…! 

Aber genau das Alter war es, was uns zusammengeführt hat, im italienischen Badeort Senigallia, in einem kleinen Raum im Ospedale, dem Krankenhaus hier, montagmorgens um halb acht, uns vier Stars. Graue Stars nämlich, in Erwartung nicht eines spannenden dynamischen Gangs auf eine Bühne, sondern einer gemächlichen Fahrt mit dem Schiebestuhl in den Operationssaal, mit einer gewissen Spannung natürlich schon auch. Außer mir (in Bett 3) noch ein gut 80jähriger, kantiger Mann in Bett 4, mit einem markigen Gesicht wie Caesar auf diesen alten Bildern bzw. Statuen, dann in Bett 6 ein sehr schweigsamer Mensch, den ich zunächst irrtümlich für einen Albaner hielt, es war aber nur sein Name, Albanesi, und schließlich in Bett 5 ein kleinerer, quirliger, ständig zu Scherzen aufgelegter, wegen seiner Brille fast intellektuell wirkender Anzugträger. Wir vier also hatten uns nacheinander nebenan im Bad Pyjamas angezogen, erhielten nun statt des eigenen Oberteils dieses – mir um einiges zu kleine – Krankenhaushemdchen umgehängt, für mich neu: hier in Italien vorn offen. Auch recht.

Ich durfte – sollte, musste – den Anfang machen. Bekam also von der freundlichen Schwester Tropfen ins linke Auge geträufelt, dann eine Creme auf den Tränensack appliziert, damit ich den Einstich der Betäubungsspritze nicht spürte. Um es gleich vorweg zu sagen: ich habe von alledem, was folgte, überhaupt nichts gespürt, also keine Schmerzen, vielleicht mal einen leichten Druck. Und schon bald wurde ich gebeten, Platz zu nehmen in dem Rollstuhl, und hineingefahren, zum ersten Mal im Leben in einen OP, wie ich sie nur von Fotos oder aus der „Schwarzwaldklinik“ kannte. Ein vierschrötiger Mann, den ich eher als Waldarbeiter denn als Augenchirurg eingeschätzt hätte, lief schon im blauen OP-Anzug herum, den Atemschutz noch auf die Stirn geschoben, hielt kurz bei mir an, um mir zu erklären, er werde jetzt in Kürze meine alte, verbrauchte Linse aus dem linken Auge herausholen und die neue, vorbereitete hinein praktizieren. Das wusste ich bereits, aus meinen Internet-Recherchen und aus dem Vorbereitungstermin letzten Freitag. Und nach weiteren sieben Minuten ging der Meister dann ans Werk, ich wurde auf den OP-Liegestuhl gebeten und in die Horizontale gefahren, er schnallte meinen Kopf in der für ihn optimalen Position fest und legte mir dringend nahe, mich nicht weiter zu bewegen. Von da an sah ich nicht mehr sehr viel, das rechte Auge war sowieso abgedeckt und mit dem linken nahm ich nur sehr viel gleißendes Licht wahr – ein letztes Mal diese Parallele von wegen Bühnenauftritt… Dazu die knappen Sätze, die man ja aus diesen vielen schönen Filmen kennt, wie „Schwester, Tupfer!“ oder „Die Zange bitte!“ oder „Axt“ oder „Säge“, hier natürlich auf italienisch, und wenn ich auch die Vokabeln nicht kannte, ich verstand alles.

Wie schon gesagt: gespürt habe ich nur mal einen leichten Druck, das war aber schon gegen Ende des „intervento“ (so heißt der Eingriff in der Landessprache), vermutlich als der Waldarbeiter die neue Linse in die entsprechende Halterung in meinem Auge hinein drückte, da sah ich auch ganz kurz ihn selbst – und dann war schon alles vorbei. An mich gewandt äußerte sich der Mann sehr ruhig und sachlich, es sei alles optimal gelaufen, er sei sehr zufrieden. War ich natürlich auch. Wurde alsbald von den Kopfarretierungen befreit, die OP-Liege wurde hochgefahren, ich nahm wieder im Rollstuhl Platz und wartete. Das Ganze hatte – mit Vorbereitung und alledem – vielleicht 25 Minuten in Anspruch genommen. Kurz darauf fuhr die Schwester mich wieder zurück in das Vierbettzimmer, wo schon Caesar, der nächste auf der Liste, wartete. Ich legte mich in mein Bett. Lesen sollte ich besser nicht, meinte die Schwester. Also machte ich die Augen zu und schlief auch schnell ein.

Als ich dann um die Mittagszeit erwachte, hörte ich das gedämpfte Plaudern von Caesar und dem Intellektuellen, ich verstand nur sehr wenig, weil die beiden in einem sehr heftigen Dialekt redeten. Immerhin so viel, dass Caesar fünfzig Jahre lang als Bauer gearbeitet und ein paar Jahre in Frankreich zugebracht hatte. Irgendwann fiel auch der Name Berlusconi, da tat es mir dann leid, dass ich so wenig verstand, das hätte mich ja doch interessiert. Meist aber ging es beiden, verteilt über den Lauf des Tages, um die unangenehmste Begleiterscheinung des Ganzen: dass wir vier nicht nur hatten nüchtern erscheinen müssen, sondern auch bis zur Entlassung nichts essen durften. Immer wieder knurrte Caesar „Spaghetti“, und der andere wachte mal aus einem leichten Schlummer auf und meinte, das Wasser sei doch bestimmt schon am Kochen, für die Nudeln. Heiterkeit bei allen im Raum.

Gegen halb vier dann erschien ein Pfleger, die netten Schwestern hatten leider bereits Feierabend, und der war nun eher eine Besetzung aus „Einer flog über das Kuckucksnest“. Er befahl uns, in den nächsten zehn Minuten angekleidet vor dem Zimmer am Ende des Flurs zu warten, bis wir gleich aufgerufen würden. Wir saßen dann allerdings noch ewig da herum, weil der diensthabende Doktor alle möglichen anderen Patienten vorzog. Und auch als ich dann hineingerufen wurde, hatte er allen möglichen Unsinn (Fußball z.B.) mit dem Pfleger zu besprechen, ehe er mich, recht barsch, an den Untersuchungsstuhl dirigierte, untersuchte und meine Fragen auch nur knapp und nicht besonders freundlich beantwortete. Dieser Abschluss war eigentlich, was die Organisation und den technischen Ablauf hier angeht, der einzige kleine Schönheitsfehler an dem ganzen Tag.

Mit einem dicken Mullstück unter einer weißen Plastikkappe, befestigt mit zwei breiten Streifen durchsichtigen Heftpflasters verließ ich dann das Ospedale. Weisungsgemäß entfernte ich das alles am nächsten Morgen und schmiss es in den Müll. Höchst neugierig schaute ich dann mit dem operierten Auge in den Spiegel. Ich weiß ja, wie es sich mit den Wundern verhält, gerade auch hier in der Nähe von Loreto; 

dennoch – ich habe das Ergebnis der erfolgten Prozedur schon bewundert: mein Blick, so klar wie einst, am Auge nichts zu sehen, keine noch so kleine Verletzung, nichts. Mit dankbarer Gelassenheit beschloss ich, die Zeit bis zu meinem nächsten Kontrolltermin in zehn Tagen vorschriftsmäßig zu verbringen, also keine schweren Dinge hochzuheben, mich nicht zu bücken, schon gar nicht ruckartig, nicht selbst autozufahren und vor allem alle vier Stunden die vorgeschriebenen zwei Tropfen ins Auge zu praktizieren. Und ein paar Tage danach lernte ich sogar, mir die Haare zu waschen, ohne Wasser oder Shampoo ins Auge zu lassen. „…Kopf in‘ Nacken!“, dieser Rat (aus ganz anderem Zusammenhang) machte es möglich.

Und durchaus locker und unbeschwert blicke ich nun vorwärts zu dem nächsten Star-Auftritt, am anderen Auge, in – so schätze ich mal – etwa einem halben Jahr.

15.04.2011