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Notiz 50: Caprese Michelangelo

Italien sei – so habe ich gerade in einem ehrwürdigen „Reiseführer für Autofahrer“ aus den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gelesen – wie kein anderes Land am Mittelmeer eine wahre Fundgrube für Touristen; immer sei noch etwas zu entdecken, auch wenn man glaube, schon alles gesehen zu haben. Für mich, das räume ich ohne Zögern ein, trifft das zu. Vor 53 Jahren, am 18. August 1955, habe ich auf der Piazza della Signoria in Florenz den David des Michelangelo abgezeichnet, also von der Kopie, die dort steht, das Original steht „bekanntlich“ in der Galleria dell’Academia der Stadt. Das Blatt habe ich heute noch, es ziert zusammen mit anderen Zeichnungen das Fahrtenbuch unserer Jugendgruppe aus Heidelberg, mit der ich – auf Fahrrädern notabene! – in dieser bis heute für mich zweitschönsten Stadt (nach Paris) angekommen war. Und heute, am 5. Oktober 2008, stehe ich vor dem Kopf dieser einmaligen Statue, also wiederum einer Kopie natürlich, in einem uralten Gebäude aus Natursteinen, irgendwo im Apennin zwischen Umbrien, Toskana und den Marken, aber eher zufällig in dem Haus, in dem 1475 der Mann geboren wurde, der diesen David geschaffen hat: Michelangelo Buonarotti.

Zufall deshalb, weil ein – auf dem Weg ins Badezimmer meiner Unterkunft in Castiglion Fibocchi – verstauchter linker Fuß, die daraus folgenden Schmerzen beim Gehen und die Empfehlung des Pronto-Soccorso-Dottore in Arezzo einen geplanten Besuch (mit der Bahn) im nur gut fünfzig Kilometer entfernten Florenz verhindert hatten. Eine Fahrt im Auto nach Caprese Michelangelo aber, etwa 45 km entfernt, sollte doch ein adäquates Sonntagsausflugssurrogat bilden, oder etwa nicht?

Es wurde viel mehr: schon die Fahrt ein Traum, zwischen Quarata und La Chiassa war ich mir der Strecke nicht mehr so ganz sicher, fragte eine Autofahrerin, vielleicht 50 Jahre alt, klein, mit Brille und wilder Frisur, erhielt nach kurzem Überlegen und in ungewöhnlich fließendem Englisch den Rat: „Come behind me!“ Nach ein paar Kilometern ging es durch das Dorf Chiassa, dahinter wieder der Rat: „Always here in this direction to Anghiari, and then to the left, follow the signs!“ Die Straße, schmal, aber sehr gut ausgebaut – das hatte der Autor des eingangs erwähnten Reiseführers nicht oft genug betonen können, welch phantastischen Autostraßenbauer die Italiener seien – über zahlreiche Serpentinen hoch zu einem Pass, dessen Namen ich vergessen habe, war ja auch bloß etwas mehr als 500 Meter über dem Meeresspiegel; eine wunderschöne Landschaft, bereits mit beginnender Herbstfärbung der Bäume, darüber eine tiefblauer Himmel mit einer großen Herde weit verstreuter Schäfchenwolken.

Dann schließlich die ersten Häuser von Caprese Michelangelo. Ich denke: das könnte jetzt auch… naja: Geislingen an der Steige sein, oder Michelstadt im Odenwald oder Westrhauderfehn bei Wilhelmshaven. Langweilige Ein- und Mehrfamilienhäuser, ein Fußballplatz, zwei Lagerhallen, drei Ampeln. Und hier soll der berühmte Maler, Bildhauer, Architekt und Poet geboren sein, ein italienischer Prospekt hat ihn sogar, nach kurzem Zögern und ein bisschen verlegen, den „wahrscheinlich größte Künstler der Welt“ genannt?

Doch mein Weg geht noch ein bisschen weiter, immer noch ein paar Kilometer, und schließlich steil bergauf, in einer Einbahnstraße an einer Bergkuppe entlang, links Parkplatz an Parkplatz, heute alle frei, es ist ja Sonntag, später Vormittag (Gottesdienststunde!) und Oktober. Dann geht es nur noch zu Fuß weiter, zwei Biegungen noch, dann bin ich da: im Borgo.

Auch hier kein Mensch, außer dem überaus netten, strahlenden, jungen Mann an der Kasse. Eintritt – wegen der Sperrung eines Teils der Ausstellung in der Burg auf Grund unumgänglicher Renovierungen – nur 2 Euro. Und es gibt dazu, wir haben schließlich 2008, eine Art portables Telefon, mit einer elaborierten Führung durch das Anwesen, auf Deutsch gesprochen. Sehr informativ, wie gesagt, diese Führung, ebenso wie die Ausstellung selbst hier, in the middle of nowhere. Oder besser: in Italien, wo man den Eindruck bekommen kann, jeder Quadratmeter sei angefüllt mit Geschichte und Geschichten, politischen, künstlerischen, religiösen. Was so natürlich nicht ganz stimmt – aber hier stehe ich und sehe und höre, was dieser Mann geschaffen hat, erlebt, bewirkt und angestoßen und was heute noch lebendig ist, illustriert in diesem Haus hier mit Kopien von Arbeiten (Geschenke von Orten, die die Originale besitzen, von den Uffizien über die Vatikansammlungen bis zum Louvre), und mit Gemälden, die Stationen seines Lebens festhalten.

Gegen ein Uhr verlasse ich diesen Ort wieder, mir entgegen kommen mehr und mehr Autos mit Menschen, die nun ihrerseits durch die Anlage ziehen werden; fast nur Italiener. Sie wissen offenbar oder ahnen von dem Wert, der hier angesammelt ist beziehungsweise über die Welt verstreut auch heute noch existiert, auch ohne an irgendeiner der Weltbörsen notiert zu sein (welche derzeit ohnehin mal wieder Katastrophenkurs fahren, obwohl doch nach der Befreiung vom infernalischen Sozialismusversuch dem alles regelnden Markt nichts mehr im Weg herumsteht). 

Ich fahre zurück in dieses von Patina geadelte Haus, diese toskanische Villa, in der ich zu Gast bin, etwa zehn Kilometer von Arezzo entfernt. Und die zwölf Tage, die ich hier Urlaub machen, mich erholen will, die könnte ich genau so gut füllen, jeden Tag, mit Besichtigungen von Museen, Ausstellungen, Anlagen, Messen (etwa die Antiquitäten-Messe in Arezzo, jedes erste Wochenende im Monat auf der Piazza Grande), mit Diskussionsveranstaltungen oder Konzerten, es ist unglaublich, was hier alles angeboten wird –

La vita è bella. Natürlich weiß ich um die Doppel- oder sogar Mehrfachbedeutung dieses Filmtitels von Roberto Benigni (welcher übrigens gerade als einer von vielen, etwa auch dem aktuellen Papst Benedikt 16) die Bibel rezitiert, eine Woche nonstop, übertragen im Fernsehen. Und ich weiß inzwischen auch, dass wichtige Teile dieses Films auf eben dieser Piazza Grande von Arezzo gedreht wurden. Ob man das in ein paar Jahrhunderten noch wissen wird, noch würdigen? Da in der „Fundgrube Italien“ jedoch nicht nur die wirklichen Wertstücke zu entdecken sein werden, sondern – wie bisher ja auch schon – solche Unikate wie Nero, die uneheliche Papsttochter Lucrezia Borgia, die Erfindung und liebevolle Ausgestaltung der Inquisition und schließlich auch Mussolini, wird auf jeden Fall für alle Italienliebhaber festgehalten sein, dass zu Anfang dieses 21. Jahrhunderts der „wahrscheinlich komischste, bislang jedenfalls reichste, dummdreisteste und für die Demokratie gefährlichste Regierungschef“ (kein Prospekt, sondern meine Formulierung) in Rom an der Macht war – il Cavaliere, Silvio Berlusconi. 

Was mich tröstet: dessen Geburtshaus, irgendwo in Mailand, wird – wenn es dann überhaupt noch steht – nie das Ziel von auch nur einem ehrfürchtigen Besucher sein (und auch von keiner Besucherin…). Wohl aber, immer noch, die Casa Natale dell’Artista Michelangelo Buonarotti.

8.Oktober 2008