ITA ING DEU

Notiz 44: Jahreswechselmelancholie

Warum wird eigentlich immer zum Ende eines Jahres Bilanz gezogen? In diesen Wochen gibt es doch schon so genug Deprimierendes: die Tage sind die kürzesten im Jahr und zusätzlich oft grau, nebelverhangen, von Dauerregen durchweicht oder mit völlig überflüssigem Schnee garniert, der entweder zwei Tage und zweihundert Blechschäden später wieder weggetaut ist oder als dreckiggraue Masse die Straßenränder verunziert und Autofahrern und Fußgängern gleichermaßen die Laune vermiest. Außerdem fällt Weihnachten in diese Zeit, die härteste Prüfung für Familien wie für Singles, und die epidemisch anwachsende Zahl von Weihnachtsmärkten (die bald wohl schon im August anfangen werden) übt weit mehr Terror aus als sämtliche Bin-Laden-Videos und Al-Qaida-Verlautbarungen zusammen. Und zu alledem dann eben auch noch diese Bilanzen! Sowohl öffentlich (wer in diesem Jahr leider oder endlich gestorben ist, wer welches wunderschöne Tor geschossen und wer den dümmsten politischen Satz abgesondert hat) als auch privat (wer welchen kapitalen Bock geschossen hat, wessen Seitensprung wirklich völlig unvorhersehbar und welche Ausrede für einen solchen die blödeste war). Warum füllt man mit solcherlei Nachrichten nicht das Sommerloch?

Aber so st es nun mal, und es ist schon lange so, es muss wahrscheinlich einfach so sein, das ist ein Naturgesetz wie die sich immer weiter öffnende Schere zwischen Reichen und Armen, weltweit und dank der Entwicklung nach der Vereinigung auch wieder in Deutschland, und ebenso unabänderlich wie die immer neuen und doch so ewig gleichen TV-Ansprachen von Bundespräsident und Kanzler(in). Da gab es doch mal diese großartige Verwechslung der Sende-Bänder, so dass 1986 Helmut Kohls Sermon vom Vorjahr wiederholt wurde, was nur durch die andere Krawatte auffiel und auch bloß seiner Sekretärin – warum führt man das nicht ganz gezielt ein: alle Jahre wieder den gleichen Text, nur mit anderem Selbstbinder oder anderem Amtsinhaber? 

 

Wie auch immer: wenn es denn offenbar sein muss, ziehe auch ich Bilanz.

Und das erste, was ich dabei feststellen muss: ich habe in den letzten Wochen dieses Jahres die falschen Bücher gelesen. Genauer: zu viele Bücher der gleichen falschen Inhalte. Man frisst ja auch nicht andauernd Paprikagulasch oder Sauerkraut mit viel zu fettem Bauchspeck in sich hinein – genau so ungesund aber habe ich gelebt, was meine geistige Nahrung betrifft. Das fing an mit „Gomorrha“ von Roberto Saviani. Ich wusste ja schon einiges über die (Un-)Art und die Macht der Mafia (oder der Camorra oder N’drangheta), aber in welchem Ausmaß diese Organisationen das alltägliche Leben in verschiedenen Regionen von Bella Italia (in diesem Fall: criminella Italia) bestimmen und wie unauflöslich verfilzt sie mit den örtlichen öffentlichen und privaten Strukturen sind – das, mi dispiace, wusste ich wirklich nicht.

Gleich danach kam dann der nächste Wälzer: „Die Schock-Strategie“ von Naomi Klein. Wieder so ein fettes Stück: Saviani brachte es auf 365 Seiten, das Werk der kanadischen Journalistin auf 763. Und was die so alles zusammengetragen hat, wusste ich ebenfalls nicht, jedenfalls nicht in dieser geballten Wucht und mit so vielen schauerlichen Einzelheiten und Zitaten und Belegen. Und die verblüffendste Folge dieser Lektüre (die übrigens kein bisschen anstrengt, weil so gut und flüssig geschrieben): wie von selbst fügen sich so viele aktuelle Meldungen und Berichte in dieses Bild eines – wie Klein es nennt – „Katastrophen-Kapitalismus“ ein. Ob das die neue Rolle des glatten Gpunkt Schröder als Gazprom-Manager ist, der schmerzhaft komische Kurs seiner revolutionären Anlegerpartei SPD, die Ankündigungen der Konzerne, durch immer neue „Freisetzungen“ von Mitarbeitern immer größere Profite anzustreben, die schamlosen Lügen, auch nur minimale Lohnerhöhungen (oder gar die Einführung von – igitt! – Mindestlöhnen) würden den Aufschwung gefährden, den doch einzig und allein die Manager bewirken, deren Gehaltssteigerungen deshalb völlig verdient und in Ordnung seien, und… und… und…

Notabene: das ist alles bekannt und öffentlich, das steht groß und breit in den Zeitungen und wird in Radio, Fernsehen und Internet verbreitet, in Talkshows belabert und in zahllosen Leserbriefen kommentiert, es ist Gegenstand von Umfragen und von Kriminalromanen (zwei davon habe ich zusätzlich auch noch verschlungen, gedacht eigentlich als Trennkost sozusagen, ja denkste: sie beschreiben das gleiche Szenario von Geldgier, mafiösen Strukturen und korrupten Politikern als Basis für die begangenen und mühsam aufgeklärten Verbrechen, mal im Triest, mal im Stockholm der Gegenwart); und es ist auch für jeden von uns, der Augen hat, zu sehen: wenn der gelangweilt auf die neue Geliebte wartende Aufsichtsratsvorsitzende im Porsche die Schlagzeile von BILD überblättert: „Schon wieder drei Kinder elend verhungert“; oder wenn eine frostviolette Greisin mit ihrer ganzen Habe im entwendeten Supermarkteinkaufswagen erschöpft vor dem Schaufenster zusammengesackt ist, in dem Armbanduhren für – Sonderangebot! – nur 38.000 Euro zum Weihnachtsfest angeboten werden.

 

Larmoyanz? Wieso denn! Ich jammere doch gar nicht! Ich bin doch nicht der Papst, der noch vor seiner Urbi-et-Orbi-Show den Leuten die gute Konsum-Stimmung vermiesen will, indem er ihnen mit Konsequenzen (im Jenseits!) droht; anstatt dem guten Beispiel der katholischen Kirche zu folgen und dem schnöden irdischen Mammon völlig zu entsagen. Ich beteilige mich auch nicht an dieser dröhnenden Debatte von gewissenswurmgeplagten SPD-Politikern, CDU-Gutchristen und Arbeitgeber-scherzbolden über irgendwie doch vielleicht ein bisschen zu hohe Managergehälter (an denen ja doch keiner was ändern kann und über die deshalb jeder so lustig herumschwadronieren darf). Ich bin auch nicht der „Gott, an den keiner mehr glaubt“ aus Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“ von 1946 (der nur noch lauthals jammern, aber den Menschen leider auch nicht mehr helfen kann, und der den Tod beneidet, welcher der neue Gott sei, unumstößlich und fett geworden); dieser Borchert, der auch „Dann gibt es nur eins“ verfasst hat, diese verzweifelte Aufforderung „Sagt nein“ zu allem, was auf einen Krieg hinführt; was ja lange Zeit auch ernst genommen wurde, vor allem von den Alternativen, ehe  dann auch sie wie vor ihnen schon die abgeklärt denkenden Sozialisten und realistisch argumentierenden Christen die einzig wahre Einsicht übernommen haben: „Wat mutt, dat mutt“, oder, wie es einst der US-Außenminister Alexander Haig so treffend ausdrückte: „Es gibt Schlimmeres als Krieg“.

Nein, nochmals nein: ich jammere nicht. Auch nicht darüber, dass ich (auch) dieses Jahr wieder im privaten Bereich die Erfahrung gemacht habe, dass Menschen sich in einer nicht erwarteten Art verändert haben (oder waren sie vielleicht immer schon so und ich habe es nur – idealistisch verblendet – nicht gesehen?). Es gibt ja zum Glück, auf der anderen Wagschale, das Gegengewicht neuer Freundschaften und bleibend verlässlicher Mitmenschen. Und ich sehe Ähnliches nicht nur im privaten, sondern auch im öffentlichen Bereich: z.B. den brasilianischen Bischof Luiz Flavio Cappio, der mit seinem Hungerstreik gegen ein gigantisches Flussumleitungsprojekt protestiert (das doch alle „vernünftigen“ Instanzen, von der es betreibenden Wirtschaft über die Regierung Lula und den Obersten Gerichtshof für notwendig und richtig halten); ich sehe wunderbare Ausstellungen und Bildbände von Kunstwerken der verschiedensten Epochen, höre Konzerte und Aufnahmen der großartigsten Musik, von Klassik bis Modern Jazz, staune über so viele Schöpfungen zeitgenössischer Architektur, und weiß das alles gefördert und überhaupt erst ermöglicht durch die Millionenspenden von Sponsoren und Mäzenen.

 

Und so fühle ich mich denn wie der Zirkusbesucher in Kafkas kurzer Erzählung „Auf der Galerie“: ich sehe die „immerfort weiter sich öffnende graue Zukunft“ des brutalen und scheinbar alternativlosen Wirtschaftssystems ebenso wie die kleine Kunstreiterin, die „ihr Glück mit dem ganzen Zirkus teilen will“, und: „Da dies so ist, legt der Galeriebesucher das Gesicht auf die Brüstung und, im Schlussmarsch wie in einem schweren Traum versinkend, weint er ohne es zu wissen.“

 

Apropos Traum – das gibt es gelegentlich auch noch, diesen Traum, dass eines Tages die vielen Millionen Menschen, immer wieder als „das Volk“ glorifiziert oder verspottet, sich zusammentun (wie es z.B. kurz vor dem Irak-Krieg 2003 weltweit geschehen ist) und diesen – wie mir scheint noch immer vorhandenen – humanistischen Defekt überwinden (den die anderen, die Oberen, die Besseren, die Tüchtigen, die Erfolgreichen nicht haben) und ernst machen mit dem Spruch, den ich ihnen schenke: „Rumsfeld, Cheney, Bush und Co – ab nach Gu-an-tá-na-mo!“ Oder: „Mehdorn, Ackermann und Pierer – endlich glücklich als Hartz-Vierer“.

Komische Bilanz, ich weiß. Aber per Saldo sage ich: es war, für mich ein positives Jahr, dieses 2007. Und so blicke ich denn auch erwartungsvoll voraus nach 2008.

 

31.12.2007