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Notizen 37 Gespenstisches

Er hängt noch immer hier über dem Corso, der Hauptstraße von Corinaldo, der Hinweis, auf ein unregelmäßig geschnittenes einfaches Holzbrett gemalt, rot-bluttriefend, der Wegweiser zum „Tunnel della Paura“ (Tunnel der Angst). Ein letztes Überbleibsel des in den letzten fünf Oktober-Tagen – nein: -Nächten, natürlich! – zelebrierten „Halloween-Festivals hier in diesem Städtchen mit der einzigen Heiligen in den ganzen Marken. Der Tunnel der Angst: vor seinem Eingang drängelten sich die Menschen, viele (im Jahr zuvor 70 000…) von weit her angereist, manche auch von den umliegenden Dörfern und Höfen, sie zahlten den einen Euro Eintritt und erlebten auf dem Weg zum Ausgang (etwa 300 Meter weiter in der Burgmauer, durch die der zur Angstmeile umfunktionierte sonstige Spazierweg führt) wahrlich Gespenstisches. Düsteres Licht, nur manchmal von Stroboskop-Blitzen durchzuckt, lange Spinnwebenfäden wabern an den Wänden und von der Decke, allenthalben fasst aus einer unerkannten Nische eine knochige Hand, aus offenen Särgen erheben sich Scheintote, bleich und blutig, vom Tonband über viele Boxen ächzt und stöhnt und kreischt es (komischer Gedanke plötzlich: den Sound könnte man vermutlich auch unverändert einem Pornofilm unterlegen). Kurz: ein Erlebnis wie früher (oder auch heute noch?) auf Volksfesten und Jahrmärkten bei der Fahrt mit der „Geisterbahn“. Der harmlose Horror lässt die Besucher am Ende des Tunnels heiter ins warme Licht der fackelbeleuchteten mittelalterlichen Straßen treten.
Aber auch sonst viel Gespenstisches hier. Überall hängen weiße Gerippe und aus Stofftüchern (Servietten?) geformte Kleingeister herum, an Laternen, Stromleitungen, Fensterläden. Viele Menschen – und nicht nur die bambini, auch die vielen kokett blickenden ragazze – tragen die kegelförmigen Hexenhüte, dazu schwarze Umhänge und spitze Schuhe (nun, die sind ohnehin in Mode hier in Italien), kehren in eine der zahllosen kleinen Schänken ein, wo es die unterschiedlichsten Angebote an Essen und Getränken gibt, auch das alles unglaublich billig. Für mich besonders gespenstisch: auf der Riesenbühne am großen zentralen Platz der Stadt ein Alleinunterhalter, eine Art Stefan Raab al italiano, die wenigen Worte der wie MG-Salven aus den Boxen knallenden Sätze, die ich verstehe, sind entweder dümmlich oder obszön, aber stets belohnt vom Lachen und Klatschen der anwachsenden Menschenmenge.
Corinaldo; seit ein paar Jahren also das Zentrum des Halloween-Kultes in Italien. Keine gewachsene Tradition hier, sondern importiert, erfunden und vorangetrieben von einem publicitybewussten Bürgermeister und einer Gruppe fröhlich-geschäftstüchtiger Leute. Und so wurde auch ein anderes Ritual integriert, hierzulande auch im Sommer weit verbreitet: eine Miss-Wahl. Jetzt passend die Miss Strega, die schönste Hexe im ganzen Land. Naja: Dorf. Es ist November inzwischen, die Tage von Halloween sind vorüber. Aber sie haben Nachwirkungen, bei mir. Sie haben meinen Blick geöffnet für so viel anderes Gespenstisches hier, und nicht nur hier… Zum Beispiel die aktuelle italienische Politik, in der noch immer – oder schon wieder – das Gespenst Berlusconi umgeht. Oder das Wetter: seit Wochen nur Sonne und eine sommerliche Wärme tagsüber. Natürlich ist es schön, weil man nicht nur Heizung spart, sondern immer noch im Freien ein Gläschen Weißwein trinken und zusehen kann, wie die Wäsche trocknet. Aber irgendwie gruselig ist es doch – das kann eigentlich nicht mit rechten Dingen zugehen, das alles. Und es ist auch anderswo nicht anders. In Deutschland nehmen die rechtsradikalen Übergriffe zu, der braune Un-Geist breitet sich aus, spukt wieder in Landtagen. Eine Umfrage der ARD ergibt, dass zum ersten Mal mehr als die Hälfte der Deutschen mit der Demokratie nicht mehr zufrieden ist. Und dazu erklärt ein Spitzen-WDR-Mann, das bedeute aber nicht, dass die Deutschen etwas anderes wollten – schauerlich, das, und es wird nicht etwa mit brüllendem Gelächter quittiert, sondern ehrfürchtig als ernstzunehmender Kommentar akzeptiert.
Und so weiß ich: mein mich amüsierender Spaziergang durch den „Tunnel della Paura“ wird sich fortsetzen, wenn ich ab dem 7. November mal wieder für eine Woche nach Köln reise. Und ich beschließe, mich zum Eigenschutz dort dann mit der gleichen Vor-Einstellung zu wappnen wie sie mir hier problemlos geglückt ist, also mit gelassen-heiterer Nachsicht statt mit verkniffener Verbiesterung. Auch die Gespenster, denen ich dort begegnen werde, können nur den erschrecken, der ihnen ihre Drohgebärden ab- und sie immer noch ernst nimmt…

PS: Und siehe da: es funktioniert! Schon am ersten Abend gibt es eine Gespenster-show im Fernsehen, Blüm, Biedenkopf, Eppler bei Maischberger. Und eine weitere Geisterstunde tags darauf, die Kanzlerin spricht über Europa: Hui Buh für Erwachsene. Eigentlich fast ein bisschen schade, dass ich beides so schnell abgeschaltet habe.

Im November 2006